Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Lächeln meiner Mutter

Das Lächeln meiner Mutter

Titel: Das Lächeln meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Delphine de Vigan
Vom Netzwerk:
gelesen.
    (…)
    Ich sage Delphine, dass ich seit einigen Tagen schreibe. Ich fühle mich schuldig, sie findet mich seltsam.
    (…)
    Mein Schreiben kann, wenn es anhält, nur ein immenses Unbehagen sein. Ich verzichte auf das Leben, ich lege mich zum Sterben hin.
    Meine Töchter schweigen.
    Nach schmerzvollen und ohne erkennbaren Zusammenhang zusammengestellten Fragmenten endet Luciles Text einige Seiten weiter mit folgenden Worten:
    Wir fahren in unser Landhaus. Ich bin mit meinem Verehrer zusammen, wir fahren gemeinsam mit unserem Vater.
    Ich bin nicht zärtlich, dabei liebe ich meinen Freund.
    In der Nacht schlafe ich nicht, ich fühle mich verfolgt. Forrest schläft oben. Ich gehe pinkeln, mein Vater wartete schon auf mich, er gibt mir ein Schlafmittel und nimmt mich mit in sein Bett.
    Er hat mich vergewaltigt, während ich schlief, ich war sechzehn, ich habe es gesagt.

[home]
    Ü ber seine Familie zu schreiben, ist wahrscheinlich die sicherste Methode, mit ihr in Streit zu geraten. Luciles Geschwister haben überhaupt keine Lust, meine Niederschriften der Gesprächsmitschnitte zu lesen, genauso wenig wie das, was ich darüber möglicherweise zu sagen habe, das spüre ich an der Spannung, die mein Projekt inzwischen umgibt; und meine Gewissheit, dass ich sie verletzen werde, beunruhigt mich mehr als alles andere. Jetzt fragen sie sich wahrscheinlich, was ich
daraus
mache, wie ich die Sache angehen werde und wie weit ich zu gehen bereit bin. Wenn ich mich Lucile zu nähern versuche, kann ich ihre Beziehung zu ihrem Vater oder vielmehr seine zu ihr nicht aussparen. Ich schulde es mir zumindest, die Frage zu stellen. Und diese Frage ist nicht schmerzfrei.
    Ich schieße aus nächster Nähe, und ich weiß es.
    Bei einem Mittagessen mit meiner Schwester erzähle ich ihr, wie mich die Lektüre von Lionel Duroys sehr schönem Buch
Le Chagrin
[3] erschreckt hat. Er kommt darin auf seine Kindheit zurück und beschreibt die radikale und unerbittliche Weise, in der seine Geschwister sich von ihm abwandten, nachdem ein fünfzehn Jahre zuvor geschriebener Roman von ihm erschienen war, in dem er seine Eltern und die Geschwisterschar, der er entstammt, bereits vorgestellt hatte. Bis heute spricht niemand von ihnen mit ihm: Er ist ein Verräter, ein Paria.
    Genügt die Angst, um einen zum Schweigen zu bringen?
    Über ihrem Croque-Monsieur versichert mir meine einigermaßen beeindruckte Schwester, dass sie mich nach wie vor bedingungslos unterstütze. Ich müsse die Sache bis ans Ende durchziehen, sagt sie, und dürfe nichts im Dunkeln lassen.
     
    Ich verlasse sie mit der Überzeugung, dass es an dem Punkt, an dem ich jetzt bin, an dem Punkt, an dem wir alle sind, nur einen möglichen Weg gibt, und der führt über diesen Punkt hinaus.
     
    Der Mann, den ich liebe (und von dem ich inzwischen glaube, dass er mich auch liebt) sieht voller Unruhe, dass ich immer weniger schlafe, je weiter ich beim Schreiben vorankomme. Ich versuche ihm zu erklären, dass das normal ist (es habe nichts damit zu tun, dass ich mich in ein neues Genre verirrt habe, es habe nichts mit dem Material zu tun, mit dem ich arbeite, es sei auch bei anderen, rein fiktionalen Büchern passiert usw.). Ich spiele das Großmaul und fege alle Fürsorglichkeit beiseite.
     
    Genügt die Angst, um einen zum Schweigen zu bringen?
     
    Mit zweiunddreißig Jahren schreibt Lucile, dass ihr Vater sie vergewaltigt hat. Sie schickt diesen Text an ihre Eltern und Geschwister und gibt ihn uns zu lesen. Einige Wochen lang stelle ich mir vor, es würde etwas ganz Schreckliches und ungeheuer Spektakuläres passieren, eine Familienimplosion, die ganz sicher fürchterliche Schäden nach sich ziehen würde. Ich warte auf die Tragödie.
     
    Doch es passiert nichts. Nach wie vor fahren wir hin und wieder über das Wochenende nach Pierremont, niemand verjagt meinen Großvater mit einem Besen, niemand schlägt ihn auf der Treppe zusammen, sogar meine Mutter spricht mit ihrem Vater und spuckt ihm nicht ins Gesicht. Ich bin zwölf und kann darin keine Logik erkennen. Wie ist es möglich, dass eine solche Enthüllung keine Auswirkungen hat? In der Schule interessiere ich mich nur für Grammatik. Doch in Pierremont geschieht mangels entsprechender Konjunktionen –
so dass, weil, woraufhin –
nichts, keine Tränen, kein Schrei, meine Mutter besucht ihre Eltern, diese machen sich Sorgen um sie, weil sie so müde wirkt, so abgemagert, so verhärmt, sie schläft nicht genug, das Leben ist

Weitere Kostenlose Bücher