Das Land der lebenden Toten
inzwischen nur zu gut, wie wenig Verlaß auf sein Erinnerungsvermögen in dieser Hinsicht war.
Aber obwohl er jetzt mehr Arbeit hatte als jemals früher, erledigte er sie doch nicht ernsthaft nur mit Widerwillen. Er hatte zunächst einmal genug von dem Leben als einsamer Wanderer, und es brachte große Befriedigung, als König seinen Job zu tun – und ihn gut zu tun. Es war offensichtlich, daß unter Dumuzi in diesem Uruk hier Mißherrschaft bestanden hatte, genau wie damals im ersten Uruk in der anderen Welt, und es bereitete Gilgamesch großes Vergnügen, Dumuzis unsinnige bürokratische Selbstzweck-Verordnungen rückgängig zu machen und wiederherzustellen, was Dumuzi hatte verkommen lassen.
Er machte seinen alten Freund, Vy-otin, den Eisjäger, zu seinem Obersten Minister. Herodes erwies sich ebenfalls als nützlicher Berater Er hatte es vorgezogen, bei Gilgamesch in Uruk zu bleiben, als Simon Magus, vollgepackt mit den Edelsteinen, nach Brasil abgereist war. Auch Ninsun, in ihrer liebevollen Klugheit, war ebenfalls eine wertvolle Ratgeberin. Und immer war Enkidu da für ihn, brachte ihm Entspannung und brüderlich nahe Vertrautheit und seine ehrliche, bodenständige, gesunde, von Herzen kommende Weisheit. Und nach einiger Zeit seiner Herrschaft gewann Gilgamesch einen weiteren Berater, einen seltsamen und unerwarteten: es war kein anderer als der aus der vorgeschichtlichen Urzeit kommende Haarmensch, der in Brasil Simons Chefmagier gewesen war.
Er kam unangemeldet, erschien einfach eines Tages zu Fuß vor den Toren Uruks, zu einer Zeit drückender schwarzer Witterung, brüllender vernichtender Stürme und reißender Überschwemmungen. Gilgamesch schuftete an der Stadtmauer, kämpfte unter einem erbarmungslosen stahlgrauen Himmel und stapelte Sandsäcke vor den Wällen aus gebrannten Ziegeln auf, die an einem Halbdutzend verschiedener Punkte unterspült zu werden drohten, als der Mann ankam. An diesem Tag war so ziemlich jeder, der nur ein bißchen etwas schleppen konnte, da draußen am Werk; und der König persönlich gab das beste Beispiel. Dämonische Geschöpfe mit langen gelben Schuppenhälsen und giftiggrünen Flügeln kreischten höhnend in der Höhe über ihnen. Und weiter oben im Himmel zitterten zuckende Elmsfeuer, blutige Streifen, feurige Kometen. Der Regen prasselte unerbittlich herab, ein ganzes Meer fiel in armdicken Strängen auf die Stadt nieder. Der König stand bis zu den Schenkeln im Schlamm, oder doch fast, fing die Sandsäcke auf, die Enkidu ihm von oben her zuwarf, und packte sie mit wilder Hast an den Fuß der Mauer, als eine seltsam vertraute krächzende Stimme aus dem Sturmgetöse zu ihm drang, die in gutturalen, eisverkrusteten, kaum verständlichen Wortbrocken 2u ihm sprach.
»Was?« brüllte Gilgamesch. »Wer ist das denn? Was sagst du?«
»Daß das da vielleicht die Große Flut ist, von der du immer so viel geredet hast, die jetzt wiederkehrt, um dein Land erneut zu ertränken«, sagte der andere nun langsamer und um deutlichere Aussprache bemüht.
Gilgamesch blickte sich um. Im Donnergetöse und den Dämonenblitzen erkannte er den Haarigen Mann, der klein, untersetzt und mit seinem Tiergesicht ganz gemütlich in dem Sturm dastand, als wehte weiter nichts als ein sanfter Frühlingszephyr. Er trug eine Römertoga, weiß mit rotem Ziersaum, und man sah darunter den schweren rötlichen Pelz, der vom Regen dicht und verfilzt an ihm klebte. Die dunklen Augen unter den massigen Stirnbögen leuchteten in einem seltsam urtümlichen Feuer. Hier war ein Geschöpf, das wußte Gilgamesch, das auf der Welt gelebt hatte, als auch die Götter noch jung waren.
»Die Flut, sagst du?« grunzte Gilgamesch.
»Ja, die Flut. Die nach meiner Zeit kam und vor der deinen, jedenfalls hast du mir das so gesagt, König Gilgamesch. Die kam, um diese Welt wieder einmal zu beenden und eine frischere zu beginnen. Aber, komm, laß mich dir helfen.« Und er watete in den driftenden Schlamm, hob einen Sandsack hoch, den Enkidu von der Mauerkrone so weit geworfen hatte, daß Gilgamesch ihn nicht erreichen konnte, und stopfte ihn sorgfältig an den rechten Platz.
Gilgamesch starrte ihn an. »Wer bist denn du?«
»Nun, in Brasil kanntest du mich.«
»Simons Erzweiser?«
»Genau dieser. Frieden und Freude dir, König von Uruk.«
Von weit oben spähte Enkidu mit gerunzelter Stirn zu ihnen herab. Er rief etwas, das der heulende Sturmwind verwehte, und warf einen weiteren Sandsack herunter, der viel zu weit weg
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