Das Land der lebenden Toten
Chenrezi, der Allerbarmende Großlama von…« Gereizt schob Gilgamesch den Haufen beiseite. »Wer sind denn alle diese Könige und Königinnen und Sultane und Lamas überhaupt? Wo ist ihr Land? Kann sich denn ein jeglicher, der fünf Narren findet, die ihm nachhinken, heutzutage bereits als Herrscher aufführen? Ich glaube einfach nicht, daß es diese ganzen Länder wirklich gibt! Laßt mir eine Karte bringen! Zeigt mir, woher diese Gesandten kommen!«
»Du hast doch zweifellos nicht vergessen, König Gilgamesch, daß es mit einigen Schwierigkeiten verbunden ist, wenn man sich auf Landkarten stützt«, bemerkte Herodes. »Sie bieten nur sehr unzuverlässige Informationen, um es gelinde auszudrücken.«
Gilgameschs Gesicht rötete sich. In seinem wilden Eifer hatte er das ganz vergessen.
»Gut, ja, manche vielleicht«, knurrte er. »Aber es muß doch Karten geben, die zuverlässiger sind. Außerdem, eine Karte, auch wenn sie nicht stimmt, ist besser als gar keine. Sucht mir diesen Mercator. Er soll mir eine Karte machen!«
»Wen?«
»Er wurde Mercator genannt. Ich kannte ihn vor hundert etlichen Jahren, oder vor zweihundert, in Persepolis Khaikosru, wo er im Dienst des Schah stand und den ganzen Tag, in irgendwelchen Kneipen herumhing und auf Lederstreifen Karten zeichnete. Aber da war auch noch ein anderer, Herodot, ein Grieche, der quasselte auch von früh morgens bis in die Nacht, ohne aufzuhören, aber wenigstens erzählte er wunderbare Geschichten, und er war in jedes Land gereist, das es gibt. Vielleicht könnt ihr den finden. Und wenn ihr die zwei nicht findet, dann vielleicht jemand anderen. Laßt in Uruk verkünden, daß ich einen Kartographen suche!«
Aber Mercator war nicht auffindbar, ebensowenig Herodot, doch einige Tage später schleppte Herodes ein gewisses wenig vertrauenerweckendes Subjekt an, einen dunklen kleinen Mann mit einem lahmen Bein und ausdruckslosen, aber wilden Augen, einer von den Später Toten, aber dafür recht altmodisch gekleidet, sehr düster. Er sagte, sein Name sei Fernao de Magalhaes, Portugiese, sagte er, für die Spanier sei er unter dem Namen Magellanes bekannt, und, sagte er, er verstehe einiges von Geographie.
»Du bist also ein Kartograph?« fragte Gilgamesch.
Magalhaes warf ihm einen lodernden Blick zu. »Ich habe Karten benutzt, aber ich fertige keine an. Ich bin Seemann, Seefahrer, Kapitän. Ich segelte einst um die ganze Welt, oder doch beinahe.«
»Um diese ganze Welt?« Gilgamesch hob die Augenbrauen.
»Um diese Welt kann man nicht segeln, denn sie hat nirgendwo ein Ende. Ich spreche von der wahren Welt«, sagte Magalhaes. »Über den Leib der Welt, von einem Ende zum anderen, auch wenn Gott mir nicht gestattete, das ganz zu vollenden; allerdings konnten andere meine Reise vollenden, nachdem ich ermordet worden war, doch den Ruhm trug ich davon. Ich hatte die Idee, ich plante die Fahrt, ich führte sie durch, ich leitete alles. Es war meine Leistung.«
Die Augen loderten. Vielleicht ist er ein bißchen aus dem Gleichgewicht, dachte Gilgamesch. Aber es konnte ja wohl jeden durcheinanderbringen, so kurz vor der Erreichung eines so gewaltigen Ziels ausgeschaltet zu werden. Die ganze Welt zu umsegeln! Der Mann besaß echte Stärke, ohne Zweifel. Und außerdem, fast alle Leute, denen er in der Nachwelt begegnete, erschienen Gilgamesch als ›aus dem Gleichgewicht‹. Aber er verstand noch immer nicht so recht, wie man es anstellen sollte, rund um die Welt zu segeln, wenn man die Schwierigkeiten bedachte, auf die man stoßen mußte, wenn man an den Rand der Welt kam; doch wenn dieser Mann hier behauptete, er hätte es geschafft, schön, dann hatte er das höchstwahrscheinlich tatsächlich getan.
»Kannst du mir eine Karte machen?« fragte er.
»Von der wirklichen Welt?«
»Von dieser hier«, sagte Gilgamesch.
Magalhaes verzog finster das Gesicht. »Das wird dir nicht viel bringen. Hier ist es verdammt bescheuert, keine Breitenmessung bleibt stabil, und der Kompaß ist weiter nichts als ein Spielzeug.«
»Das weiß ich. Trotzdem, ich brauche eine Landkarte. Mit den allgemeinen Umrissen der Welt und den vielen Königreichen, die es da gibt, auch wenn die genauen Details nicht stimmen oder sich mir unter den Augen verändern.«
»Du könntest ebenso gut nach den Linien in deiner Hand navigieren«, sagte Magalhaes. »Aber ja, schön, ich werde dir eine Weltkarte zeichnen, wenn du das wünschst. Jetzt gleich. Gebt mir eine Feder, gebt mir eine
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