Das Land der lebenden Toten
Übermaß war bedrückend, und dennoch ließ sich nicht leugnen, daß die Masse Macht ausübte. »Also schön. Ich werde dir Simon Magus schicken – meinen Gast, den fetten zechfreudigen Alleinherrscher der Insel Brasil. Du weißt, welchen ich meine?«
Ur-Namhani neigte kurz bejahend den Kopf.
»Du gibst ihm alles aus dieser Kammer hier, was er haben möchte«, sagte Gilgamesch.
Der Kämmerer der Schärpe Enlils keuchte: »Alles?«
»Laß ihn sich vollstopfen.«
Die Augen des Schatzhüters quollen bestürzend vor. »Aber – Euer Majestät – verstehe ich Euch richtig? – Ich ersuche Euch zu bedenken…« Ur-Namhani holte tief Luft. »Was, wenn er alles fordert?«
»Dann wird seine Rückreise nach Brasil ziemlich langsam vonstatten gehen, wenn er mit nur fünf Wagen so viel und sein sonstiges Gepäck transportieren will.«
»Majestät… Majestät…«
Gilgamesch lächelte. »Ich bezweifle irgendwie, daß sogar Simon soviel Frechheit besitzt, alles zu verlangen. Aber händige ihm aus, was er haben will. Wahrscheinlich werden ihn nur die Edelsteine interessieren, denke ich mir. Er kann auch das Gold haben, wenn ihn danach gelüstet. Wir brauchen derlei Zeug hier nicht.«
»Aber Euer Majestät, das sind heilige Dinge! Es ist der Schatz Enlils!«
»Und Enlil ist unser aller Vater«, erwiderte Gilgamesch. »Wenn er die Welt erschaffen kann und die Nachwelt dazu, dann kann er sich doch bestimmt sechs weitere Schatzhäuser erschaffen, die ebenso reich wie dies hier sind. Hier unten im Keller eingeschlossen, tut das ganze Zeug keinem etwas Gutes. Simon liebt immerhin diese Steine wenigstens und wird seinen Palast damit schmücken, oder vielleicht seine ganze Stadt. Mich kümmert das nicht. Gib ihm, soviel er will, Ur-Namhani, Hast du verstanden? Gib ihm reichlich!«
18
D ER V EZIER H ERODES wartet auf Audienz, Majestät«, sagte der Haushofmeister.
Gilgamesch seufzte. »Er soll eintreten.«
Herodes kam mit einem großen Bogen Papier, den er vor dem Thron entfaltete, als handelte es sich um eine kostbare Schriftrolle aus dem fernen Cathay. Gilgamesch warf einen säuerlichen Blick darauf.
»Was? Noch mehr Daten, Herodes?« Er ließ das Wort Daten wie ein scheußliches Schimpfwort klingen.
»Die Namensliste der Zivilbeamten«, sagte Herodes. »Nach Abteilungen und Seniorität geordnet.«
»Seniorität? Seniorität?«
»Das ist hier sehr wichtig, das Dienstalter, der Rang, mußt zu wissen. Sie haben hier starke Interessenverbände und eine Reihe von strammen Arbeitsbestimmungen, länger als dein… also, als dein Arm. Soll ich das jetzt mit dir durchgehen, oder wollen wir es auf später verschieben?«
»Auf später, glaube ich«, sagte Gilgamesch. Doch dann schüttelte er den Kopf. »Nein. Nein, bei den Augen Enlils, erledigen wir es gleich!« Und mit soviel Geduld, wie es ihm möglich war, ging er an die Arbeit.
Gilgamesch überraschte es – obschon das eigentlich nicht hatte der Fall sein dürfen –, daß die Herrschaft über Uruk sich als derart komplex und zeitaufwendig erwies. Es galt, an Ritualen teilzunehmen, Bestallungen zu bestätigen, verzwickte Entscheidungen zu treffen, Bauprojekte einzuweihen und zu kontrollieren, Gesandte zu empfangen, sogar den einen und anderen Aufruhr zu ersticken – denn die Nachwelt war kein wohl geordneter Ort, und selbsternannte Könige waren hier so gemein wie Echsen und erhoben Anspruch auf den nächsten besten Thron. Auch war die persönliche Anwesenheit des Königs erforderlich bei theatralischen Ereignissen und bei Sportspielen, besonders bei den Stierkämpfen, die nun, unter der enthusiastischen Ägide Picassos, in Uruk zu einer regulären sonntäglichen Einrichtung geworden waren. Gilgamesch selbst beteiligte sich nicht mehr aktiv an der Corrida – hin und wieder wurde dabei ein Matador getötet, und seit er nun um seine eigene Verwundbarkeit wußte, hätte er es als Verletzung seiner geheiligten königlichen Pflichten betrachtet, wenn er das Risiko einging, auf derart leichtfertige Art weitergesandt zu werden. Doch er nahm fast an jedem Sonntag teil. Enkidu war stets die Hauptattraktion und erlegte zwei, manchmal drei Stiere, ehe der Nachmittag vorbei war.
Im alten Sumer, dem Land, dachte Gilgamesch, war es bei weitem nicht so beschwerlich und mühsam gewesen, König zu sein, wahrscheinlich auch nicht, vermutete er, während seiner ersten Regierungszeit im nachweltlichen Uruk; allerdings war es durchaus möglich, daß er sich darin irrte. Er wußte
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