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Das Land der lebenden Toten

Das Land der lebenden Toten

Titel: Das Land der lebenden Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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Ereshkigal-Tempels vielleicht. Nein, möglicherweise ist es der Waffenmeister der Inanna. Aber nein, nein – das ergibt ja kaum einen Sinn – etwas von solcher Wichtigkeit würde man bestimmt nicht dem anvertrauen – erlaube, daß ich noch einen Augenblick nachdenke, Majestät, nur noch ein Augenblickchen…«
    »Von einem Wurstkranz bekäme ich rascher Antwort«, sagte Gilgamesch, und sein Gesicht verfinsterte sich.
    »Ich denke nach, Euer Majestät, ich denke…«
    »Du wirst bald selber ein Strang von Würsten sein, wenn du mir nicht sofort sagst, was ich wissen will.«
    »Der Kammerherr der Enlil-Schärpe!« keuchte Akurgal verzweifelt.
    »Ach ja?«
    »Ja, der Kammerherr der Enlil-Schärpe. Ja, wahrhaftig, Majestät. Er ist der Mann!«
    »Bring ihn her zu mir!«
    »Sofort, Majestät. Sogleich.«
    Mit rudernden Armen und flatternden Kleidern trabte Akurgal davon. Gilgamesch lachte. Wenige Minuten später erschien ein weiterer Funktionär vor ihm, ein hagerer Mann mit einem Gesicht wie ein Hackmesser, deutlich assyrischem Aussehens, trotz des sumerischen Namens: Ur-Namhani. Als Gilgamesch ihm seinen Willen kundtat, sah ihn Ur-Namhani lange fest an, als disputierte er innerlich, ob er dem Befehl gehorchen sollte. Nach geraumer Zeit sprach er mit großer Würde und einer unverhohlenen Verärgerung: »Der Schatz befindet sich im Tempel Enlils. Soll ich ihn herbeischaffen lassen, oder wollt Ihr mich hinbegleiten?«
    »Wir begeben uns dorthin.«
    Keine von Simons wilden Wunschphantasien hatte ihn angemessen auf das vorbereitet, was ihn in den dunklen, dumpfkalten Gewölben unter dem Tempel des Göttervaters erwartete. Ur-Namhani holte einen Schlüsselring hervor und schloß gewichtig Tor um Tor auf, während sie durch eine Reihe enger Gänge schritten, bis sie die innerste Kammer erreichten, und als dort Licht gemacht worden war, sah Gilgamesch vor sich ein Übermaß an Reichtum, das jegliche Vorstellung überstieg. Wo immer sein Auge hinfiel, waren Säcke, Truhen, Kästen, Beutel, Kassetten, die von allen erdenklichen Kostbarkeiten überflossen, und im Schatten dahinter deuteten sich weitere Schätze an und so weiter und so fort in ein unausmeßbares Gewirr von Höhlen.
    Über Mannshöhe waren da Goldziegel gestapelt, fässerweise Schmuckstücke, Halsketten, Armreifen, Ringe, Spangen, Broschen, Manschetten, alles von feinstem Goldschimmer. Da gab es Lavallieren, Halsringe, Gehänge, Ketten, Anstecknadeln, Diademe, Solitäre. Säcke voll Perlen. Es gab große Haufen Goldmünzen. Gilgamesch hob eine Handvoll auf und sah die Köpfe von Kaisern und Königen und auf der Rückseite wilde Greife und Drachen. Er sah Hufeisen aus Gold und Dolche und Gürtelschnallen und Zierat in Gestalt von Brücken, Karossen und Burgen. Es gab goldene Zahnstocher und Goldkästchen, die funkelnde Diamanten enthielten, und auf Goldschnüre aufgezogene Diamantenketten. Aus übervollen geborstenen Leinensäcken ergossen sich Edelsteine; sie leuchteten in allen Farben, rot und grün und gelb und blau und strahlend weiß und noch einem Dutzend weiterer Färbungen, und Gilgamesch tauchte die Hände hinein und ließ funkelnde Ströme durch die Finger rieseln: Rubine, Smaragde, Saphire, Opale, Amethyste, Jaspis, Karneole, Chrysoberylle und Mondsteine, Türkise, Bernstein, Korallen, Jade. Es nahm kein Ende. Kein Wunder, daß Simon Magus so gierig darauf war, die Stadt zu erobern. Lange durchforschte Gilgamesch schweigend diese Wunderkammern. Dann wandte er sich dem wartenden Ur-Namhani zu.
    »Sind diese Dinge wirklich? Echt?«
    »Echt?«
    »Zauberschwindel oder echte Juwelen?«
    »Oh, sie sind echt, Euer Majestät, höchst definitiv echt«, sagte Ur-Namhani in hochnäsig-herablassendem Ton. »Zusammengetragen von Dumuzi aus jedem Winkel der Welt – zum Ruhme Enlils. Es verging nicht ein Jahr, ohne daß in diesen Verliesen ein weiteres Vermögen an Schätzen eingelagert wurde, das gereicht hätte, um das Lösegeld für jeden König zu bezahlen.«
    Gilgamesch nickte. »Ich hätte mir nicht gedacht, daß es in dieser Stadt genügend Gauner gibt, um eine solche Menge Plunder zusammenzustehlen, nicht einmal in tausend Jahren. Eine sehr beeindruckende Ausbeute. Sehr beeindruckend.« Er erhob sich und warf zwei Handvoll blitzender Kostbarkeiten zurück in das nächste Faß. In seinem Kopf hämmerte es. Das Ausmaß der gehorteten Schätze war betäubend, sogar für ihn, dem derart plumper grober Reichtum wahrlich kein Vergnügen bereitete. Allein schon das

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