Das Land der lebenden Toten
Informationen geht es den Leuten sehr schlecht, und so ist es kaum wahrscheinlich, daß sie uns größere Schwierigkeiten machen könnten.«
»Abgesehen davon, daß sie in eine Stadt kommen wollen, die sowieso schon mitten in einer Dürre- und Hungerperiode ist«, sagte Herodes. »Müssen wir auch noch die aufnehmen? Fünfhundert weitere durstige Kehlen? Fünfhundert weitere leere Mägen?«
»Wir sind ein zivilisiertes Volk hier«, sagte Gilgamesch kalt. Er nickte Enkidu zu. »Nimm dir hundert Mann von der Grenzpatrouille und finde heraus, wer diese Leute sind und was sie wollen. Und natürlich auch, ob sie irgendwelche hölzernen Rösser mitführen.«
»Sir Walter?« flüsterte Hakluyt. »Bist du vielleicht wach, Sir Walter?«
Raleigh öffnete vorsichtig die Augen. Das war ziemlich schmerzhaft, denn seine Lider waren empfindlich wie bei einem kleinen Kind, voll Blasen von der Sonne und dem Glast, der von der endlosen Weite des Sandes strahlte. Seine Rüstung lag weggeworfen neben ihm, er hatte nur ein Wams und filzbesetzte Beinkleider an. Er hob den Kopf. Auch das kostete Mühe und war schmerzhaft. Diese ganze Expedition, dachte er, war eine einzige Qual und Plage.
»Was ist denn, Richard, du verfluchter Hurensohn von einem Pavian?«
Der kleine Geograph glühte vor Erregung. Er zappelte und hüpfte nervös umher und fuchtelte heftig mit etwas in seiner Hand. »Die Karte, Sir Walter! Sie ist wieder lesbar!«
»Was?« Raleigh setzte sich unvermittelt hellwach und energiegeladen auf. »Dein Wort in Gottes Ohr, Hakluyt, wenn du mich narrst…«
»Aber sieh doch! Hier!« Hakluyt hob das Ding, mit dem er herumgefuchtelt hatte, eine abgenutzte fleckige und nur allzu vertraute Lederrolle, und löste die Verschnürung. Zitternd schob er Raleigh die Karte fast bis auf die Nase. »Ich glaube, es kommt davon, daß wir so nahe an Uruk sind. Die Karte hat aus der Nähe zu der Stadt ihre frühere Kraft wiedergewonnen, vielleicht durch irgendeinen Zauber, den Doktor Dee auf sie legte, ehe wir aufbrachen, und…«
»Dee?« rief Raleigh und spuckte aus. »Seine Lungen sollen zu Wasser werden! Der Bart soll ihm einwärts durch die Lippen wachsen, dem heimtückischen Zaubergaukler! Der mir geschworen hat, daß die Karte vollendet ist und er sie mit solchem Zauber belegt hat, daß wir damit nie in die Irre gehen könnten…«
»Aber sieh doch nur«, sagte Hakluyt.
Raleigh sah mit der Hand über den verkniffenen Augen auf die Karte und versuchte, die Markierungen auszumachen, die sie enthielt. Es überraschte ihn, daß Hakluyt das hinterhältige Ding überhaupt behalten hatte, in all den Monaten – oder waren es Jahre? –, seit es plötzlich verblaßte und vollkommen leer wurde.
Aber wahrhaftig, jetzt schien es wieder mit irgendeiner Art Schriftzeichen bedeckt zu sein. Ein erneuter teuflischer Trug? Oder war es die echte ursprüngliche Karte? Es sah so aus, ja, das echte Original, soweit er sich daran erinnern konnte. Ja, da war alles wieder vorhanden, auf wundersame Weise wiederhergestellt, blaßrote Tusche auf dunkelbraunem Leder, die ganze Route ihres waghalsigen Abenteuers, bei dem sie Jahr um Jahr im Kreis gezogen waren, länger, als er die Jahre mitgezählt hatte, auf der Suche nach etwas, das vielleicht gar nicht existierte. Da, im Norden, war in kühnen Umrissen das Reich ihrer Majestät, und nicht weit davon entfernt das Gebiet ihres Vaters, des harten alten Königs Heinrich, die schreckliche Weite des Outback, das Königreich des Priesters Johannes, das des Mao Tse-tung und die ganzen übrigen Herrschaftsbereiche der närrischen Kleinfürsten der Wüste, und weit drüben am westlichen Rand, in einem gespenstischen roten Glühen, das aus dem Leder aufstieg, die Insel Brasil, von der aus, wie – dieser verräterische Schuft, der Zauberdoktor Dee, behauptet hatte, man den Weg ins Land der Lebenden finden könne.
In seiner Brust wühlte Zorn. Die wiedergeschenkte Karte bereitete ihm keine Freude. Sie bedeutete ihm nur eine erneute Mahnung daran, wie ungeheuerlich und herzzerfressend unberechenbar alles hier in dieser Welt war.
Schlimm genug, daß er schon in seinem alten Leben eine so endlose Serie von herzzerreißenden Widrigkeiten hatte einstecken müssen, die Roanoke-Katastrophe und diesen erniedrigenden Angriff auf Cadiz, wo er so töricht gekämpft hatte, und sein katastrophaler Irrsinn, El Dorado in Guiana zu suchen, was ihn seinen Sohn gekostet hatte und seine Gesundheit und sein Vermögen, und am
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