Das Land der lebenden Toten
zu Gilgamesch hinüberzugehen, um ihn zu trösten, ihm den Kopf an seine Brust zu ziehen, während der Doktor Schweitzer ihn verarztete, ihm den Schweiß von der Stirn zu wischen…
Ja doch, ihm offen, auf linkisch-männliche Weise Trost und Beistand zu leisten…
Nein. Nein. Nein.
Da war es wieder, das Entsetzen, das Unaussprechliche. Häßlich. Kriechend. Dieser der Hölle entschlüpfte, aus der Kloake seiner Seele kommende Drang…
Howard kämpfte dagegen an. Er löschte ihn aus, verdrängte ihn außer Sichtweite. Leugnete vor sich selbst, daß ihm je so etwas in den Sinn gekommen sei.
Zu Lovecraft sagte er: »Na, das ist aber ein Arzt! Ich nehme an, der hat seinen Doktor sicher in den Schlachthäusern von Chicago gemacht!«
»Weißt du denn nicht, wer das ist, Bob?«
»Irgend so’n alter Holländer, nehme ich an, den ein Sandsturm hier hereingeweht hat und der sich seither nicht die Mühe gemacht hat, abzuhauen.«
»Sagt dir der Name Dr. Schweitzer überhaupt nichts?«
Howard sah Lovecraft dumpf an. »Ich vermute, ich hab’ in Texas da nicht viel von dem gehört.«
»Ach, Bob, Bob, wieso mußt du immer so tun, als wärst, du so ein stupider Cowboy? Willst du wirklich behaupten, du hättest noch nie etwas von Albert Schweitzer gehört? Dem großen Philosophen, Theologen, Musiker? Es hat nie einen besseren Bach-Interpreten gegeben, und sag mir jetzt bloß nicht, daß du auch nicht weißt, wer Bach ist…«
»Philosoph? Musiker? Sprichst du von dem alten Landarzt da drüben?«
»Der in Afrika, in Lambarene, die Leprakolonie gründete, ja. Der sein Leben der Hilfe und Fürsorge für Kranke widmete, unter höchst primitiven Umständen, im hintersten Urwald von…«
»Warte mal, H. P. das kann nicht wahr sein.«
»Daß ein einzelner Mensch so viel erreichen kann? Ich versichere dir, Bob, in unserer Zeit war er ziemlich bekannt – vielleicht nicht gerade in Texas, nehme ich an, aber trotzdem…«
»Nein. Nicht, daß er das alles gemacht haben soll. Sondern daß er hier sein soll, in der Nachwelt! Wenn dieser komische alte Knabe all das ist, was du sagst, dann ist er doch, verdammt noch mal, ein Heiliger. Außer daß er vielleicht seine Frau verprügelt hat, wenn keiner in der Nähe war, oder sowas in der Richtung. Und was hat ein Heiliger in der Nachwelt zu suchen, H. P.?«
»Was haben wir hier zu suchen?« fragte Lovecraft.
Howard wurde rot und wandte sich ab. »Also – ich nehme an, es hat in unserem Leben Dinge gegeben – Dinge, die jemand vielleicht für sündhaft halten könnte, im engsten Sinn…«
»Was hat denn Sünde mit irgendwas hier zu tun?«
»Ja, aber ist dies hier nicht die Hölle?«
»Ist sie es?«
»Ich bin sicher, daß es nicht der Himmel ist, H. P. Auch wenn es Texas ziemlich ähnlich sieht hier.«
Lovecraft schüttelte den Kopf. »Himmel – Hölle – wer weiß das schon? Es gibt Leute, die glauben, daß der Ort, den wir uns geschaffen haben, die Hölle ist, das gebe ich zu. Aber ich gehöre nicht zu diesen Leuten. Das einzige, was wir wissen, ist, daß es sich um die Nachwelt handelt, um ein Leben nach dem Leben. Siehst du hier irgendwo einen Teufel mit Schuppenflügeln und einem langen Schwanz? Leben wir in ständiger Pein?«
»Also…«
»Nein«, sagte Lovecraft. »Es gibt keinen Grund, das hier für die Hölle zu halten, auch wenn das ein paar Leute tun. Es gibt keinen Grund, anders darüber zu denken, als daß es eben die Nachwelt ist, Bob«, sagte Lovecraft sanft. »Alles hier ist zufällig und vollkommen unvorherbestimmbar. Und Sünde hat möglicherweise überhaupt nichts damit zu tun. Auch Gandhi ist hier, ist dir das klar? Und Konfuzius. Waren die Sünder? Oder Moses? Abraham? Die Leute, die das hier die Hölle nennen, haben versucht, ihre eigenen erbärmlich flachen Glaubensvorstellungen, ihre kläglichen Grundschulideen über Strafen für schlechtes Betragen, auf diesen unglaublich bizarren Ort zu übertragen, an dem wir uns nun befinden. Aber mit welcher Berechtigung tun sie das? Wir fangen ja noch nicht einmal an zu verstehen, was die Nachwelt wirklich ist. Wir wissen nur, daß sie voll ist von heroischen Schurken und verbrecherischen Helden – und natürlich Leuten wie du und ich – und anscheinend ist auch Albert Schweitzer hier. Ein großes Geheimnis. Aber eines Tages vielleicht…«
»Pscht!« sagte Howard. »Der Priester Johannes spricht zu uns.«
»Meine Herren Gesandten…«
Hastig wandten sie sich ihm zu. »Eure Majestät?« sagte
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