Das Land der lebenden Toten
ich will keinen Zauber kaufen, um Uruk zu finden. Ich suche nur nach Enkidu. Und wenn diese weisen Gelehrten…«
»Marduk! Marukka! Marutukku!« dröhnte die gewaltige Stimme.
»Diese weisen Gelehrten sind Fischhöker und Abschaum«, sagte Herodes verächtlich und machte das Hörnerzeichen gegen Aethelbald und Eadfrith und Wulfgeat. Und sie wichen vor ihm zurück. »Bauerntölpel sind die. Bestenfalls Kleinkrämer.« Und er zeichnete den sechszackigen Stern vor ihnen in die Luft, und sie wandten sich bleich und bebend von ihm ab. »Siehst du? Siehst du es, Gilgamesch? Was könnten die schon bewirken? Dir vielleicht ein Wehwehchen lindern? Dir den Nasenfluß austrocknen? Das sind törichte kleine Leute hier. Sie werden dir deinen Enkidu nicht finden.«
»Wie kannst du da so sicher sein, Herodes?«
Herodes hatte ein schlaues Glitzern in den Augen, als er nun zu Gilgamesch heraufblickte.
»König von Uruk, wenn ich dich mit einem wahren Weisen zusammenführe, der dir die Antwort geben kann, nach der du suchst, würdest du dann den Plan aufgeben, Simon auf diese unsinnige Expedition zu führen?«
Die gelbgeränderten Augen des Haarmenschen weiteten sich erstaunt. »Du sprichst von Calandola?« fragte er scharf und mit sehr belegter Stimme.
»Ja, von Calandola«, sagte Herodes.
Der Behaarte verkniff das Gesicht, mahlte mit dem affenartigen Kiefer und senkte die Brauen, daß es beinahe aussah, als nickte er, und dann stieß er aus tiefer hohler Brust einen brummenden Seufzer hervor. »Das ist nicht klug«, sagte er nach einem Augenblick. »Das ist höchst unklug.«
Herodes funkelte ihn an. »Laß das doch Gilgamesch gefälligst selbst entscheiden!«
»Asaraludu!« brüllte der Ausrufer der Fünfzig Namen. »Namtillaku! Narilugaldimmerankia!«
»Und wer ist dieser große Weise, zu dem du mich bringen möchtest?« fragte Gilgamesch.
»Sein Name lautet Imbe Calandola«, sagte Herodes. »Er ist ein Maure, ein… äh… nein, ein Nubier, oder irgendwas dazwischen. Dunkel wie die Nacht, ein scheußlicher Anblick. Er betreibt einen Tempel in den finsteren Tunnelgängen unter den Straßen von Brasil und dort herrscht er und gibt Visionen. Es gibt welche, die glauben, er sei der Herr der Finsternis in Person, der Fürst der Höllen, der Große Gegenspieler, der gewaltige Lucifer, der Phosphoros der Abgründe: Satanas, Beelzebub, Mephistopheles, der Erzfeind, der Herr des Bösen. Möglich, daß er das ist; ich aber glaube, er ist in Wahrheit nichts als ein prächtiger Wilder, der die Weisheit der Dschungel kennt. Jedenfalls aber wird er dir sagen – können, was du erfahren willst. Soweit ich weiß, befragen ihn die Haarmenschen beständig.«
Gilgamesch blickte zu dem Uralten.
»Ist das wahr?«
Der Behaarte verzog erneut das Gesicht noch schrecklicher als zuvor.
»Er blickt in die anderen Welten, dieser Calandola, ja. Und er kann andere sehen lassen, was er sieht.«
»Dann gedenke ich ihn aufzusuchen«, sagte Gilgamesch.
»Es ist gefährlich«, warnte der Behaarte.
»Das sagst du mir immer wieder. Aber was sollte ich fürchten? Den Tod? Du weißt doch, der Tod ist eine lächerliche Witzfigur für den, der ihm bereits begegnet ist!«
»Und habe ich dir nicht auch bereits gesagt, daß der Tod das am wenigsten Schreckliche hier in Brasil ist?«
»So sagtest du, ja. Aber es macht mir nichts aus.«
»Dann geh und besuche Calandola.«
»Das will ich tun.« Gilgamesch wandte sich zu Herodes. »Wann kannst du mich zu ihm bringen?«
»Wir sind also im Geschäft? Ich bringe dich zu Calandola, und du überredest Simon, seine absurde Wahnidee aufzugeben, nach Uruk zu suchen?«
Es war empörend, daß man ihn in ein derartiges Gefeilsche zu zwingen versuchte, als wären er und Herodes Markthändler, die ein Geschäft tätigen. Mühsam unterdrückte Gilgamesch den Drang, den kleinen Hebräer zu packen und ans andere Ende der Halle zu schleudern.
»Wir wollen doch nicht von einem Austausch von Gefälligkeiten reden, ja«, sagte Gilgamesch eisig. »Ich bin ein Mann von Ehre. Das sollte dir genügen. Also, bring mich zu deinem Weisen!«
Und dann stiegen sie hinab. Hinunter in die Tiefen, in das Dämonenland, in die Gänge der Teufel, wohin das Licht der Sonne niemals drang, zu dem Wohnsitz des schwarzen schrecklichen Imbe Calandola.
Als er ein Junge war in Uruk, hatte sich ihm ein Sklave mit dem Abzeichen der Göttin Inanna eines Tages genähert und zu ihn gesagt, als er sich gerade im Speerwurf übte: »Du mußt jetzt
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