Das Land der lebenden Toten
Gestöhn.
Und dann Musik, ein schreckliches barbarisches Trommeln und die schneidenden Töne von Flöten oder Pfeifen schrillten darüber.
»Das Haus Calandolas liegt gleich dort hinten«, sagte Herodes.
»Was muß ich beim Eintreten tun?« fragte Gilgamesch.
»Steh du aufrecht. Zeig keine Furcht. Blick ihm in die Augen.«
Gilgamesch lachte. »Das wird mir nicht schwerfallen.«
»Warte es ab«, sagte Herodes. »Und sag mir das gleiche dann noch einmal!«
Der Gang bog plötzlich scharf nach rechts ab, und Gilgamesch blickte in einen langen, engen Seitengang, in dem nur ein schwacher flimmernder Lichtschein zu erkennen war. Die einzige Öffnung dorthin schien ein Loch zu sein, das kaum groß genug war für einen Zwerg. »Hier durch«, sagte Herodes und kletterte durch die Öffnung. Gilgamesch mußte auf den Knien sich erst mit der einen, dann mit der anderen Schulter hindurchzwängen. Der Behaarte folgte ihm.
Abgesehen von dem einen Lichtpunkt in der Öffnung, herrschte dahinter absolute finsterste Nachtschwärze, so dicht und schwer, daß sie wie Fäuste auf die Augen schlug. Gilgamesch war von der tiefen Schwärze wie betäubt. Zum erstenmal bekam er nun ein Gefühl dafür, was es bedeuten mußte, blind zu sein.
»Hier herüber«, sagte Herodes munter. »Folgt mir!«
Und was war, wenn vor ihnen auf dem Weg eine bodenlose Fallgrube gähnte, voller kochenden Öls oder gewaltiger Schlangen auf dem Grund? Und wenn scharfe Sicheln von den Wänden des Stollens herausstießen, um Vorbeikommende zu zerstückeln? Wenn an Stolperstricken Schwerter hingen, bereit niederzusausen und zu zersäbeln? Aber er sah nichts. Er war ganz und gar auf blindes gläubiges Vertrauen angewiesen.
Aber in dieser erzwungenen Blindheit erwachten andere Sinne…
Er hörte das Rauschen des schweren römischen Gewandes, das Herodes trug, in der stickigen Luft, das Patschen seiner Sandalen auf dem Boden. Die Haut auf der Stirn und den Wangen spürten den Luftzug, den die Bewegungen Herodes’ bewirkten. Wie ein nächtlicher Jäger bei der Verfolgung seiner Beute las Gilgamesch diese und weitere Signale und folgte furchtlos und ohne Zaudern.
Der Gang verengte sich, bis er wie eine schweißfeuchte Faust sich von allen Seiten heranpreßte. Dann weitete sich der Gang wieder und wurde zu einer weiten hallenden Höhle. Und er verengte sich erneut. Er fiel abwärts, stieg wieder an, wand sich hierhin und dorthin. Und dann entließ er sie plötzlich in einen gewaltigen von Schatten erfüllten Raum, der unregelmäßig von qualmenden Fackeln in Messinghaltern beleuchtet wurde, ein Raum voller Winkel und Ecken, wo Wände und die Decke bedrückend und verwirrend ineinander übergingen. Und in der Raumesmitte thronte ein Mann von derart beeindruckender Würde und Autorität, daß er nur der Großmagier Imbe Calandola in Person sein konnte, von dem man in der Nachwelt munkelte, er sei der Erzfeind, der Herr Alles Bösen, der Wahre Luzifer, der Beherrscher der Finsternis.
Gilgamesch erkannte sogleich, daß dies nicht so war. Er sah auf einen Blick, daß dieser Calandola weder göttlich war, noch ein Dämon oder Teufel, sondern ein Mensch aus Fleisch und Blut, wie er selbst, jedenfalls als er noch gelebt hatte. Doch im gleichen Augenblick erkannte er auch, daß der Mann, vor dem er hier stand, etwas höchst Außergewöhnliches war. Daß er, obwohl vielleicht ein Sterblicher, sehr wohl Götterblut in sich tragen mochte.
Genau wie Gilgamesch selbst, der seit seinen Kindertagen wußte, daß er zu zwei Teilen göttlich und nur zu einem Teil sterblich sei, woher seine gewaltige Statur und seine tiefe Erkenntnis rührten. Obwohl ihn auch dies nicht davor bewahrt hatte, sterben zu müssen und seit so langen Jahren hier in der Nachwelt zu hausen.
»Haltet inne und erweist eure Ehrerbietung!« dröhnte eine dunkle Stimme aus den Schatten hinter dem Thron. »Werft euch nieder, Fremdlinge, denn ihr steht vor dem großen Jaqqa, dem Imbe Calandola!«
Gilgamesch schaute wie erstarrt hin und spürte etwas, das einem Gefühl von Ehrfurcht nahekam, wie er es seit fünftausend Jahren nicht mehr gekannt hatte.
Calandola war so schwarz wie Calandolas Stollengänge: eine abgrundtiefe absolute Schwärze, das Schwarz einer sonnenlosen Leere, so tief, daß alles umgebende Licht hineingesogen zu werden schien. In seinem vorherigen Leben waren schwarze Menschen Gilgamesch nicht unbekannt gewesen. Auf seinen Wanderzügen zu fernen Orten hatte er die plattnasigen, dicklippigen
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