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Das Land der lebenden Toten

Das Land der lebenden Toten

Titel: Das Land der lebenden Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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mit mir in den Tempel der Göttin kommen.« Und der Sklave hatte ihn zu dem Tempel geführt, den sein Großvater Enmerkar einst auf der Hügelplattform aus weißen Ziegeln erbaut hatte, und dann hinab und abwärts durch gewundene Gänge, die Gilgamesch nie zuvor gesehen hatte, in unheimliche Stollengänge, die tief unter dem Tempelfundament lagen und bis in die Gründe der Erde hinabführten. Durch Hallengänge, in denen im unterirdischen Dunkel ferne Lampen glühten, und vorbei an Orten, wo Magier im Kerzenschimmer ihr Werk vollführten, und durch Kreuzgänge, wo er flüchtige Blicke auf bocksbeinige Dämonen erhaschte, die stumm irgendwelchen Arbeiten nachgingen, bis er am Ende zu dem Geheimen Gemach der Inanna selbst gelangte, tief, tief unter den sonnversengten Straßen Uruks, wo die schlanke Priesterin ihn erwartete, mit ockergelb gefärbten Wangen und von Kohle schwarzgeschminkten Augenlidern.
    Aber das war vor langer Zeit gewesen, in seinem ersten Leben. Und es war das erstemal, daß er einen flüchtigen Eindruck von den Welten gewann, die unterhalb der Welt lagen, wo unsichtbare Flügel flattern und der Widerhall rauhen Gelächters durch stauberfüllte Gänge schallt. An jenem Tage hatte der junge Gilgamesch erfahren, daß die Welt mehr war, als die ihm vertraute Oberfläche ihm sagen wollte, daß es Schichten um Schichten von Rätselhaftigkeit gibt, die weitab außerhalb der Erkenntnis gewöhnlicher Sterblicher liegt. Und während der Zeit seiner Königsherrschaft war er wieder und immer wieder in diese tiefere, untere Welt hinabgestiegen.
    Und nun und hier in der Nachwelt, in der gar nichts vertraut war und alles voller Rätsel, stieg Gilgamesch wieder einmal in die Welt unter der Welt hinab.
    Schon vor langem hatte er herausgefunden, daß es auch hier eine unterirdische Region gab, ein unermeßlich weites Land voller Gänge und Stollen und alles höchst verwirrend. In den frühen Jahren seines Totenlebens war er stöbernd durch diese Niederwelt gezogen, denn da hielt ihn noch diese unersättliche Neugierde im Griff, die ihn einst bis an die Grenzen der Erde getrieben hatte, aber sein Interesse an derlei Erkundungen war rasch erloschen, je stärker sein zielloses und untätiges Nachweltleben von ihm Besitz ergriff, und so war dies nun seit anderthalb Äonen oder mehr das erstemal, daß er wieder in die unterirdischen Gänge hinabstieg.
    Es gab Meinungen, daß durch diese Stollen ein Weg aus der Nachwelt führe. Gilgamesch bezweifelte das. Er teilte die faszinierte Besessenheit Enkidus und zahlreicher anderer nicht, diesen Traum, den sie so lange gehegt hatten, sie könnten da einen Weg zurück ins Land der Lebenden finden. Für ihn war das ohne Bedeutung; er war sicher, soweit man hier irgendeiner Sache sicher sein konnte, daß für die hier Hausenden die Nachwelt endgültig und ewig sein mußte. Er wußte von einigen, die in die Grüfte hinabgestiegen und nie zurückgekehrt waren. Aber das war für ihn kein Beweis, daß sie einen Weg nach draußen gefunden hätten, sondern er vermutete eher, daß sie durch eine zwiefache Unterwelt irrten, vielleicht gar das Haus des Staubes und der Finsternis selbst, jenen Schreckensort, von dem die Priester in Uruk erzählten, wo die Gestorbenen wie Vögel gekleidet umherirrten und traurig ihr Gefieder durch den Staub schleppen müßten. Es reizte Gilgamesch gar nicht, in dieses ewig nächtliche Land ohne Hoffnung zu gelangen.
    Doch jetzt – um zu erfahren, wohin sein Enkidu diesmal entschwunden war…
    Und hinab und hinunter. Die Fackel des Herodes zuckte und spuckte. Die Luft war dick und bedrückend. Sie schmeckte brandig. Im trüben Schein erkannte Gilgamesch an den Stollenwänden gräßliche Skulpturen, von denen ihm die Augen zu pulsieren und zu beben begannen. Er mußte den Blick von diesen Scheußlichkeiten abwenden.
    Die Gänge wanden, bogen sich, manchmal fast gerade abwärts, dann über schräge steile Rampen. Die Stollen durchkreuzten einander, schienen ineinander zu münden, trennten sich erneut, so daß es nahezu unmöglich war zu erkennen, welchen Weg sie ursprünglich eingeschlagen hatten. Doch Herodes schien sich auszukennen, obwohl auch er hin und wieder sich verwirrt und ratsuchend an den Haarigen Mann wandte, der nur grob mit einem überlangen dolchartigen Fingernagel in diese oder jene Richtung wies. Keiner sprach. Sie trafen auf kaum jemand sonst in den Stollen. Ab und zu hallte Dämonenlärm aus der Ferne zu ihnen: Keckern, Kreischen, Zischen,

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