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Das Land der lebenden Toten

Das Land der lebenden Toten

Titel: Das Land der lebenden Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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Stirn von Calandola trat eine Ader hervor. Die seltsamen Muster der Schmuckornamente auf seiner Haut traten irgendwie noch stärker hervor und schienen zu beben und zu schwingen. Die beiden Finger preßten noch heftiger. Ohne mit der Wimper zu zucken, blickte Gilgamesch gleichmütig auf seine und Calandolas Hände, dann ließ er zwei seiner Finger um das Handgelenk des anderen gleiten und erwiderte den Druck mit ebenso großer Kraft.
    Calandola reagierte darauf nicht. Es war, als verspürte er keinen Schmerz, oder aber er wußte – wie Gilgamesch –, wie man Schmerz als unwichtige, unwürdige Nebensächlichkeit aus dem Bewußtsein verbannt.
    Während sie so aneinander geklammert standen und sich die Finger in die Hände gruben, sagte Calandola: »Du bist zu groß für einen Portugaller und zu dunkelhäutig für einen Ingleser. Aber nicht dunkel genug, um Afrikaner zu sein.«
    »Nein. Ich bin weder das eine noch das andere.«
    »Was bist du dann also?«
    Gilgamesch erhöhte den Fingerdruck. Aber Calandola ließ nicht erkennen, daß es ihn schmerzte. Wie es schien, waren sie beide nicht fähig, einander durch Schmerz zu überwinden.
    »Als ich am anderen Ufer lebte«, sagte Gilgamesch, »in dem Land, das als das Land zwischen den Zwei Strömen bekannt war, nannten wir es Sumer.«
    »In Afrika?«
    »Nein, nicht Afrika.« Hin und wieder hatte Gilgamesch Landkarten gesehen. Er hegte geringes Vertrauen zu ihnen, aber andere Menschen richteten sich anscheinend danach, und auf diesen Karten war Afrika der Name des großen buckeligen Landes weit südlich von seinem Land, und die Luft dort war wie Feuer. »Einige nannten mein Land Mesopotamien.«
    »Ich weiß nichts von einer solchen Gegend.«
    »Sehr wenige tun das heutzutage. Doch einst war dort der Mittelpunkt der Welt.«
    »Zweifellos«, entgegnete Calandola unbeeindruckt. Er ließ Gilgameschs Hand wie beiläufig los, keineswegs als Eingeständnis einer Niederlage, sondern anscheinend nur, als habe ihm irgendeine Prüfung die erwünschten Ergebnisse gebracht. »Deine beiden Flüsse, welche waren das?«
    »Der kürzere hieß Euphrates, so nannten ihn manche später. Der andere Tigris. Bei uns hießen sie Buranunu und Idigna.«
    Calandola nickte erhaben. Es war deutlich, daß diese bedeutenden Namen für ihn nichts weiter waren als Geräusche. Er schien ganz in irgendwelche geheimen Berechnungen versunken.
    »Bringt Wein!« rief er plötzlich mit einer Handbewegung zu jemandem im Hintergrund der Höhle.
    Gilgamesch erkannte, daß im Dunkel hinter Calandola ein beträchtlicher Hofstaat wartete: ein halbes Dutzend schwarzer Männer, die fast so massig waren wie ihr Herr, und etwa ein Dutzend entsprechender Weiber, allesamt mit kaum mehr als mit Perlen und Muscheln und ihrer ölglänzenden dunklen Haut bekleidet. Einer kam nun mit einer hölzernen Schüssel nach vorn, die randvoll war von irgendeinem dicken süßduftenden Wein. Calandola tauchte die Fingerspitzen hinein und beträufelte damit Gilgameschs Haupt, als wolle er ihn salben, und rieb ihm dann den Wein fest in die Haut des Schädels, wobei er langsam in einer unbekannten Zunge etwas murmelte. Gilgamesch unterzog sich widerstandslos diesem Ritual. Danach bot ihm der schwarze Riese die Schale dar. Einen Augenblick lang fragte er sich, ob er nun seinerseits Calandola das Haupt salben müsse, doch nein, er sollte einfach nur daraus trinken. Er nippte, fand das Getränk schwer und ekelhaft süß. Calandola ließ ihn nicht aus den Augen. Und nach kurzem Zögern griff Gilgamesch erneut nach der Schüssel und trank, diesmal einen großen Zug.
    Calandola warf den Kopf zurück und lachte. Sein Mund war riesig, ein großes weltverschlingendes Loch mit gewaltigen weißen Hauerzähnen. Vier von ihnen fehlten, zwei oben und zwei unten, so symmetrisch waren die Lücken, daß Gilgamesch es für wahrscheinlich hielt, daß sie absichtlich entfernt worden waren, vielleicht aus Eitelkeit oder für einen dunklen Ritualzauber. Und als das Lachen ihres Herrn die Männer und Weiber seines Volkes gleichfalls zum Lachen ermunterte, sah Gilgamesch, daß auch ihnen allen in gleicher Weise zwei obere und zwei untere Zähne fehlten.
    »Du trinkst wie ein König«, sagte Calandola. »Hast du einen Namen?«
    »Ich bin der Sumerer Gilgamesch, der König war in Uruk.«
    »Aha. Ich bin Calandola-der-Jaqqa, der König war der Welt.« Er klatschte in die Hände. »Öl für den König Gilgamesch!« dröhnte er.
    Zwei der schwarzen Weiber kamen nach vorn

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