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Das Land der lebenden Toten

Das Land der lebenden Toten

Titel: Das Land der lebenden Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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bestimmt, welche Menge richtig ist. Ich denke, es liegt an dir, Gilgamesch. Du hast dich nicht preisgegeben, du hast ein Stück von dir zurückgehalten, in Reserve sozusagen. Ich kann das verstehen. Aber wenn du Antwort auf deine Fragen haben willst – wenn du herausfinden willst, wohin Enkidu verschwunden ist…«
    »Ja. Ich verstehe.«
    »Calandola wird dich vielleicht erst wieder in einer Woche vor sich lassen, oder in einem Monat. Doch wenn er dich rufen läßt, dann geh! Und was immer er dir zu tun aufträgt, tu es! Oder du wirst nichts erfahren. Ja, Gilgamesch?«
    »Worüber plaudert ihr zwei denn so angeregt?« fragte Simon, der auf einmal neben ihnen auftauchte. »Brütet ihr eine hübsche kleine Verschwörung aus?« Er klopfte mit einer Hand auf den breiten Rücken Gilgameschs, mit der anderen auf den von Herodes. »Es nützt euch nichts, wißt ihr. Ich habe Weise, die alles sehen und mir alles sagen. Das Vergangene, die Gegenwart und die Zukunft liegen offen für ihre Weisheit da. Der winzigste Verdacht auf ein umstürzlerisches Unterfangen, erscheint sofort als Punkt auf ihren Zauberschirmen.«
    »Es besteht kein Anlaß zu Befürchtungen«, sagte Gilgamesch. »Ich glaube, Herodes zieht es vor, hier dein Premierminister zu sein, als höhere Verantwortlichkeiten zu übernehmen. Und es dürfte dir ja einsichtig sein, Simon, daß ich nicht danach lechze, über Brasil zu herrschen.«
    »Ich weiß, wonach du dich sehnst, Gilgamesch. Suche doch zur Abwechslung mal du mich in zwei Tagen auf, dann können wir gemeinsam die Uruk-Karte studieren. Wir sollten uns bald auf den Weg machen. Was sagst du dazu, Gilgamesch? König von Uruk im Ruhestand, bald König des wiederauferstandenen Uruk? Wie klingt dir das in den Ohren?«
    »Wie Musik«, sagte Gilgamesch.
    Simon lachte und ging davon.
    Als der Tyrann außer Hörweite war, sagte Herodes beunruhigt: »Ist das etwa wahr? Also willst du schließlich doch wieder König in Uruk werden?«
    »Ich sagte nur, daß Simons Worte in meinen Ohren klingen wie Musik.«
    »Das sagtest du, ja.«
    Gilgamesch lachte. »Aber ich habe nun mal gar nichts für Musik übrig.«
    »Aha? Ach so!«
    »Und was diese Expedition nach Uruk angeht, schön, schauen wir doch erst einmal, was mir dein großer Calandola an Weisheit zu bieten hat. Bei der echten Öffnungszeremonie. Und der Erkenntnis, die darauf folgen soll. Und dann werde ich begreifen und wissen, ob ich diese Reise unternehmen soll oder nicht. Warten wir es doch einfach ab, König Herodes.«

11
    W IEDER DIE verwinkelte Kammer in der Stollenhöhle. Die schwelenden Fackeln in den Messinghaltern. Die Trommeln, die Pfeifen, die Masken, die Tänzerinnen. Die langbeinigen schwarzen Männer bei unerklärlichen Riten im Schattendunkel. Der Honigwein, das schimmernde Salböl. Es war Gilgameschs dritter Besuch im Hause des Imbe Calandola. Wieder würde er die Öffnung erfahren, wieder diesen anderen stärkeren, den dicken süßen roten Wein trinken. Wieder würde er über die Trennwände hinwegschauen, die Seele von Seele abgrenzen; und diesmal, vielleicht, würden alle geheimnisvollen Schleier fortgenommen, und er würde erfahren dürfen, was zu erfahren er gekommen war.
    »Ich glaube, du bist nun bereit«, erklärte Calandola. »Für das profundere Fest. Für die volle Erkenntnis.«
    »Ja, reicht mir den Wein«, bat Gilgamesch.
    »Heute wird es nicht nur Wein sein«, erklärte Calandola.
    Aus dem Dunkel Gesang und Trommeln. Feuer flackerten hinter dem Thron des Imbe-Jaqqa. Ein Geräusch wie von Wasser, das in einem großen Kessel brodelt.
    Ein Zeichen von Calandola.
    Der Mundschenk trat vor, ebenso die Schüsselträgerin. Wieder trank der Hund Ajax zuerst, danach Herodes, dann Gilgamesch selbst. Doch diesmal trank auch Calandola und trank tief und gebot immer aufs neue, die Schale zu füllen, bis seine Lippen und die Kehle ganz vom Rot beschmiert waren.
    »Belial und Beelzebub«, flüsterte Herodes. »Moloch und Luzifer!«
    Gilgamesch spürte wieder, wie ihn das seltsame Gefühl der Öffnung überkam. Er kannte die Anzeichen inzwischen: eine unheimliche Gedämpftheit der Geräusche bei gesteigertem Bewußtsein. Unsichtbares streifte ihn in der Luft. Er vernahm ein tiefes Summen, das wie aus dem Herzen der Welt zu dringen schien. Er konnte die Seele des Hundes Ajax und die des Hebräers Herodes berühren; und nun enthüllte sich ihm auch die schreckliche Gegenwart des schwarzen Calandola. Enthüllte sich und blieb dennoch verschlossen, denn

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