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Das Land der lebenden Toten

Das Land der lebenden Toten

Titel: Das Land der lebenden Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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Geschick sein, daß du dennoch sterben wirst und auf ewig in der Nachwelt leben mußt.
    Du, Enkidu, du willst der kühne Jäger und Krieger sein, der Freund des großen Königs. Und es soll dein Geschick sein, immer wieder zu sterben und zu sterben, auf daß dein königlicher Freund in allen Hallen der Ewigkeit nach dir sucht.
    Du, Herodes, wirst schlau sein und vorsichtig, eine Maus in einer Löwenwelt. Und du willst über genug Witz und Wissen gebieten, sie alle zu täuschen, um deinen Thron zu bewahren und am Leben zu bleiben, so schrecklich und gefährlich dir die Macht auch erscheint.
    Wir sind allesamt, was wir sind. Das ist die Entscheidung der Götter. Und wir spielen die uns angewiesene Rolle. Weshalb also jene verächtlich finden, die eine andere Rolle spielen müssen? Herodes, Simon, Calandola, der Behaarte Mann, auch diese ganzen kleinen zanksüchtigen hinterhältigen Ränke schmiedenden Später Toten und der ganze Rest – jeder spielte die ihm zugewiesene Rolle und vollzog nur, was die Götter beschlossen hatten. Und ein jeder war auf seine Weise der Hauptheld in seinem eigenen Drama und tat das Erforderliche. Wieso sollte man jemand deshalb verachten und verurteilen?
    Gilgamesch trat neben Herodes, beugte sich hinab und ergriff seinen Arm.
    »Auf«, sagte er sanft. »Schluß mit dieser Unterwürfigkeit. Du bist ein Mann. Also steh aufrecht wie ein Mann!«
    »Gilgamesch…«
    »Du brauchst nichts zu fürchten. Ich bin dein Freund. Ich will dich vor allem beschützen, was dir Angst macht.«
    Aber während er noch so sprach, erkannte Gilgamesch, daß der Zauber zerbrach, daß die Kraft des Weines ihm entglitt. Und gleich danach war das Gefühl zärtlicher brüderlicher Wärme Herodes gegenüber im Schwinden begriffen. Die verächtliche Verärgerung war wieder da. Dieser klägliche Schwächling von einem Mann – wie konnte er es nur über sich bringen und ihm anbieten, ihn zu beschützen? Was bedeutete ihm schon dieser Herodes? Laß ihn doch selbst gegen seine Dämonen kämpfen. Soll er sich doch vor Calandola prosternieren. Auf dem Kraterrand des Vesuvs tanzen und sich in den kochenden Schlund stürzen, wenn er glaubte, dabei seine höchste Glückseligkeit zu finden. Gilgamesch blickte zu Herodes hinab, schüttelte den Kopf, ließ seinen Arm los und wandte sich von ihm.
    »Nun, also wie es scheint, ist es vorbei.« Calandolas Stimme kam wie aus weiter Ferne.
    Gilgamesch stand da und blinzelte wie einer, der aus mitternächtlichem Dunkel plötzlich in den Glast der Mittagssonne tritt.
    »Das war’s schon?« fragte er. »Die Öffnung?«
    »Wenn andere Seelen nackt vor dir erscheinen, ja, das ist die Offenbarung, König Gilgamesch.«
    »Und jetzt? Kommt jetzt die Erkenntnis?«
    »Nein«, sagte Calandola. »Ein andermal. Du hast dich dem Wein widersetzt und so nur eine Teilöffnung erreicht. Deine Seele ist eine besonders störrische. Sie gibt sich äußeren Kräften einfach nicht hin. Komm ein andermal wieder, König Gilgamesch, dann wollen wir sehen, ob du stark genug bist, die Erkenntnis zu erlangen.«
     
     
    »Was habe ich falsch gemacht?« fragte Gilgamesch. »Wo habe ich versagt?«
    »Du hast dich nicht losgelassen«, sagte Herodes. »Du warst schon fast da, aber im letzten Moment hast du dich wieder zurückgenommen. Wenn die Offenbarung einsetzt, muß man sich dem vollkommen preisgeben. Du hast dich dagegen gewehrt.«
    »Kämpfen liegt in meiner Natur. Hingabe nicht.«
    »Willst du die Erkenntnis, oder willst du sie nicht?«
    »Ich glaubte, ich glaubte, es sei der Einfluß des Weines«, sagte Gilgamesch. »Ich trat in die Seele des Hundes ein. Ich sah, was er in seinem letzten Leben war. Ein Wespentier, weißt du? Mit dem Gesicht eines Weibes und einem gräßlichen Insektenleib. Und dann wandte ich mich dir zu – und ich habe deine Seele gesehen, Herodes, ich sah, wer du tief innen wirklich bist, ich…«
    »Schon gut. Du brauchst es mir nicht zu erzählen.«
    »Ich habe nichts gesehen, dessen du dich schämen müßtest.«
    »Trotzdem, vielen Dank. Ich möchte es lieber nicht wissen.«
    »Aber es war, als wären die Trennwände zwischen uns plötzlich zusammengebrochen. Und dann – dann waren sie fast sofort wieder da. Der Wein hatte seine Kraft verloren. Wenn ich vielleicht ein bißchen mehr davon getrunken hätte…«
    »Möglich«, sagte Herodes. »Du bist so verdammt groß. Vielleicht hat Calandola sich in der Dosierung vertan. Andererseits betreibt er den Job seit Jahrhunderten. Er weiß

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