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Das Land der lebenden Toten

Das Land der lebenden Toten

Titel: Das Land der lebenden Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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Pfeilköcher, seinen Bronzedolch.
    »Räuber, glaube ich. Es sieht mir ganz nach einem Hinterhalt aus.«
    Aus dem Dunst tauchten Gesichter auf und spähten durch die beschlagenen Fensterscheiben herein. Verwirrt blickte Gilgamesch zu ihnen hinaus. Glattes dunkles Haar, dunkle Augen, bräunliche Haut – unverkennbar vertraute Gesichtszüge…
    Sumerer! Männer seines eigenen Blutes! Diese Gesichter hätte er überall erkannt!
    Eine Meute aufgeregter Sumerer umringte den Zug, sprang herum, rüttelte an den Stoßstangen, brüllte!
    Simon, entflammt von Zorn und trunkener Tollkühnheit, zog sein römisches Kurzschwert und fummelte am Türgriff herum.
    »Warte!« sagte Gilgamesch, packte ihn am Ellbogen und zog ihn zurück. »Bevor du uns in ein Gemetzel stürzt, laß mich erst mal mit den Männern reden. Ich glaube, ich weiß, wer sie sind. Und ich glaube, wir wurden soeben von der Grenzpolizei der Stadt Uruk angehalten.«
     
     
    In einem weiträumigen dumpfigen Kellerraum in der Straße der Gerber und Färber saß der Mann, der sich Ruiz nannte, unter knisternden, spuckenden Flutlampen an seiner Staffelei und arbeitete unentwegt in der totenstillen Nacht weiter. Sein Oberkörper war nackt. Er war ein untersetzter, kräftiger Mann, über seine Lebensmitte hinaus, mit tiefliegenden durchdringenden Augen und einem runden Schädel, den nur noch ein weißer Haarkranz zierte.
    Die Arbeit ging beinahe gut voran. Beinahe. Doch es war schwer, verdammt schwer. Er konnte sich nicht daran gewöhnen, wie schwer ihm die Arbeit fiel. Droben war es immer ganz leicht gewesen, so natürlich wie das Atmen. Aber hier tauchten nervende Komplikationen auf, wie er sie im früheren Leben nicht gekannt hatte.
    Er betrachtete angestrengt die vor ihm stehende Frau, dann die halb vollendete Leinwand, dann wieder die Frau. Er ließ ihre Eigentümlichkeit in sein Bewußtsein eindringen und sich dort ausbreiten und schwellen, bis sie seine Seele ganz erfüllten.
    Was war sie für ein prachtvolles Geschöpf! Siehst du, wie sie da steht, wie eine Priesterin, wie eine Königin, wie eine Göttin!
    Er wußte nicht einmal ihren Namen. Sie war eine von diesen uralten Frauen, von der die Stadt übervoll war, eine von diesen Babyloniem, Assyrern oder Sumerern, wie sie leicht direkt einem der alten Sandsteinreliefs aus Ninive gestiegen sein konnten, die sie im Louvre hatten. Schimmernde dunkle Augen, starke edle Nase, schimmerndes schwarzes Haar, im Nacken unter einem zierlichen Silberkrönchen mit Karneolen und Lapislazuli zusammengerafft. Die Frau trug ein prachtvolles Kleid, scharlachroter Stoff, von Silberfäden durchwirkt, an der Schulter mit einer langen geschwungenen Goldagraffe gehalten. Es fiel dem Mann, der seinen Namen als Ruiz angab, nicht schwer, sich vorzustellen, was sich unter der Robe verbarg, und wahrscheinlich würde sie, wenn er darum bat, die Hülle nur zu bereitwillig abstreifen. Vielleicht würde er sie bitten… Später. Jetzt aber brauchte er den Stoff für sein Bild. Die stark gemeißelten Linien waren wesentlich. Sie trugen dazu bei, der Frau diesen wundersam vorzeitlichen Ausdruck zu geben. Sie war Aphrodite, Eva, Ishtar, Mutter und Hure in einem, eine Göttin, eine Königin.
    Sie war grandios! Aber das Bild… das Bild…
    Mierda! Es ging schief, wie alle die anderen.
    Zorn und Verzweiflung wühlten in ihm. Er konnte nicht abbrechen – er würde weitermachen, bis er schließlich ein Bild richtig hinbekam –, aber es war eine unablässige Qual für ihn, diese ungewohnten Fehlschläge, diese bestürzende Unfähigkeit, sich zum Herrn über die eigene Vision zu machen, wie ihm dies so triumphal in den über neunzig Jahren seines früheren Lebens gelungen war.
    Überall im Raum stapelten sich Bilder, mitten zwischen gräßlichem Trödel, zerknüllten Hemden, schmutzigen Tellern, zerfetzten Hosen, alten Socken, wachsbetrauften Kerzenleuchtern, geleerten Weinflaschen, fortgeschleuderten Sandalen, Teilen verrosteter Maschinen, Treibholztrümmern, Scherben von Tongefäßen, ausgebleichten Decken, überquellenden Aschenbechern, Werkzeug, Pinseln, Gitarren ohne Saiten, Farbtiegeln, gebleichten Knochen, ausgestopften Tieren, Zeitungen, Büchern, Zeitschriften. Er malte die ganze Nacht hindurch, jede Nacht, und inzwischen – auch wenn er seine Arbeiten meistens wieder vernichtete, indem er die Leinwände neu bemalte – hatte er genügend Stücke zusammengebracht, um ein halbes Museum zu füllen. Aber es war alles falsch, alles, wertlos,

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