Das Land der MacKenzies
hatte ihn während der Jahre im Gefängnis am Leben erhalten.
Es alarmierte ihn, dass diese zierliche Anglo-Frau mit einem untrüglichen Gespür an Dinge rührte, die er sicher hinter dicken Mauern glaubte. Er wollte sie nicht an sich heranlassen, nicht, was Gefühle anbelangte. Er wollte sie lieben, aber er wollte nicht, dass sie ihm etwas bedeutete. Wütend wurde ihm klar, dass sie ihm bereits am Herzen lag. Das passte ihm ganz und gar nicht.
Er starrte auf Marys schmale Hand, die so leicht und warm auf seiner lag. Sie hatte keine Angst davor, ihn zu berühren, als sei er schmutzig. Auch griff sie nicht nach ihm wie manche andere Frau, um ihn zu benutzen und um zu sehen, ob der Wilde in ihm den Hunger würde befriedigen können. Nein, sie berührte ihn, weil ihr an ihm lag.
Fasziniert sah er zu, wie seine Hand sich wie aus eigenem Willen langsam drehte und ihre Finger fasste. „Es war vor neun Jahren.“ Er sprach leise, gepresst, und Mary musste sich Vorbeugen, um ihn verstehen zu können. „Nein, fast zehn. Im Juni werden es zehn Jahre. Joe und ich waren gerade erst hierher gezogen. Ich arbeitete auf der Half-Moon-Ranch. Ein Mädchen aus dem angrenzenden Bezirk wurde vergewaltigt und ermordet aufgefunden, jenseits der Landgrenze der Half-Moon-Ranch. Man brachte mich aufs Revier und verhörte mich, aber das hatte ich schon erwartet, sobald ich von dem Mädchen hörte. Ich war neu in der Gegend und Indianer. Es gab keine Beweise gegen mich, also mussten sie mich wieder gehen lassen. Drei Wochen später wurde ein weiteres Mädchen vergewaltigt, direkt außerhalb der Stadt. Sie überlebte, und sie hatte den Mann gesehen.“
Wolf hielt inne, seine Augen blickten in die Ferne, als würde er die Ereignisse von damals wieder vor sich sehen. „Sie behauptete, er hätte wie ein Indianer ausgesehen. Der Mann soll groß und dunkelhaarig gewesen sein. Hier in der Gegend gibt es nicht viele große Indianer. Ich wurde festgenommen, bevor ich überhaupt von dem Fall gehört hatte, und mit sechs dunkelhaarigen Anglos zu einer Gegenüberstellung gebracht. Das Mädchen identifizierte mich, ich wurde angeklagt. Joe und ich lebten auf der Ranch, aber irgendwie konnte sich niemand daran erinnern, mich an jenem Abend, an dem das Mädchen vergewaltigt worden war, dort gesehen zu haben - außer Joe. Aber wer glaubt schon einem sechsjährigen Indianerjungen?"
Mary stellte sich vor, wie schrecklich es für ihn gewesen sein musste. Und für Joe, damals nur ein kleines Kind. Wolf musste vor Sorge um Joe halb umgekommen sein. Und sie wusste nichts zu sagen, was diese zehn Jahre alte Verbitterung und Wut hätte lindern können. Deshalb versuchte sie erst gar nicht, Worte zu finden, sondern drückte nur stumm seine Finger.
„Ich wurde vor Gericht gestellt und für schuldig befunden. Ich hatte noch Glück, dass sie mir keine Verbindung zu dem ersten Fall nachweisen konnten, sonst hätten sie mich noch im Gerichtssaal gelyncht. So oder so glaubte jeder, dass ich es war."
„Sie mussten ins Gefängnis." Es war schwer sich das vorzustellen, auch wenn sie wusste, dass es wahr war. „Was wurde aus Joe?"
„Er kam in ein Heim. Das Gefängnis habe ich überlebt, aber es war nicht einfach. Ein Vergewaltiger wird als leichte Beute angesehen, ich musste mich als der brutalste Kerl im Gefängnis geben, um von einer Nacht zur nächsten zu überleben."
Sie hatte gehört, was Männern im Gefängnis zustoßen konnte, und ihr Schmerz wurde schier unerträglich. Sie hatten ihn eingesperrt, weit weg von der Sonne, den Bergen und der frischen, reinen Luft, und sie wusste, dass es sich für ihn angefühlt haben musste, als würde man ein wildes Tier in einen Käfig sperren. Er war unschuldig, und doch hatten sie ihm seine Freiheit und seinen Sohn genommen und ihn auf eine Stufe mit dem Abschaum der Menschheit gestellt. Ob er während der gesamten Zeit im Gefängnis überhaupt ein Auge zugetan hatte? Oder war er immer bereit zum Angriff gewesen?
Ihre Kehle war wie zugeschnürt und staubtrocken. „Wie lange waren Sie da drinnen?“ Mehr als ein Flüstern brachte sie nicht zustande.
„Zwei Jahre.“ Sein Gesicht war wie aus Stein gemeißelt, seine Augen glänzten, doch Mary wusste, der Zorn galt nicht ihr, sondern den bitteren Erinnerungen. „Dann brachte man plötzlich eine Serie von Überfällen auf Frauen von Casper bis Cayenne in einen Zusammenhang. Der Kerl wurde gefasst und legte ein volles Geständnis ab. Er schien sogar stolz auf sich zu
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