Das Land der MacKenzies
zerreißen.“ Sanft löste er ihre Arme von seinem Hals und wandte sich zum Gehen.
„Ich riskiere es“, hörte er ihre Stimme hinter sich. Die Hand am Türknauf, blieb er stehen, ohne sich umzudrehen. „Ich nicht.“
Zum zweiten Mal sah Mary Wolf davongehen, und es war so viel unerträglicher als beim ersten Mal.
5. KAPITEL
Joe war ungewöhnlich zerstreut. Normalerweise verfügte er über eine bemerkenswerte Konzentrationsfähigkeit, aber an diesem Abend schien er mit seinen Gedanken meilenweit entfernt zu sein. Den Umzug in das Schulgebäude hatte er kommentarlos akzeptiert, mit keinem Wort hatte er angedeutet, ob er von der Sitzung erfahren hatte. Da es mittlerweile Mai war, schob Mary seine seltsame Unruhe auf den Frühling. Es war ein langer Winter gewesen, und sie selbst fühlte sich auch rastlos.
Sie schlug das Buch zu, das vor ihr lag. „Machen wir heute früher Schluss. Es bringt ja sowieso nicht viel."
Joe schlug sein eigenes Buch zu und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. „Tut mir leid", sagte er mit einem langen Seufzer. Es war typisch für ihn, dass er keine Erklärung anbot. Joe hatte selten das Bedürfnis, sich zu rechtfertigen.
Doch in den Wochen des gemeinsamen Arbeitens hatten sie des Öfteren persönliche Gespräche geführt, und Mary zögerte nie, wenn sie glaubte, dass einer ihre Schüler Probleme hatte. Wenn es wirklich nur Frühlingsgefühle waren, die ihm zu schaffen machten, dann wollte sie es von ihm hören. „Was hast du auf dem Herzen, Joe?"
Er verzog das Gesicht und lächelte schief. „So könnte man es wohl nennen, ja."
„Ah." Bei seinem Lächeln entspannte sie sich. Also war tatsächlich der Frühling schuld. Tante Ardith hatte ihrer Nichte zu diesem Thema oft genug Vorträge gehalten: „Wenn ein junger Mann Frühlingsgefühle entwickelt und die Säfte in ihm steigen, dann muss ein Mädchen sehr gut aufpassen. Ich schwöre, die jungen Männer sind dann völlig außer Rand und Band." Offenbar stiegen die Säfte in Joe. Mary fragte sich, ob auch Frauen Säfte hatten, die steigen konnten.
Joe spielte mit seinem Bleistift und beschloss nach einem kurzen Moment des Überlegens, mehr zu sagen. „Pam Hearst will, dass ich mit ihr ins Kino gehe."
„Pam?" Das war eine Überraschung, und mit Sicherheit konnte das auch Probleme bedeuten. Schließlich gehörte Ralph Hearst zu den Bewohnern des Städtchens, die sich am vehementesten gegen die Mackenzies wandten.
Joes eisblaue Augen gaben nichts preis, als er Mary jetzt ansah. „Pam war das Mädchen, von dem ich Ihnen erzählt habe."
Pam also. Sie war hübsch und intelligent. Mary fragte sich, ob ihr Vater wohl von Pams Flirt mit Joe wusste und sich deshalb so feindselig verhielt.
„Und? Gehst du mit ihr?"
„Nein."
Noch eine Überraschung. „Warum nicht?"
„Es gibt kein Kino in Ruth.“
„Ja, und weiter?“
„Genau darum geht es doch. Wir würden in die nächste Stadt fahren müssen. Dort würde uns niemand sehen. Sie will, dass ich sie im Dunkeln an der Schule abhole.“ Er lehnte sich zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. „ Zum Tanzen mit mir zu gehen, schämt sie sich, aber im Dunkeln herumzuschleichen, dafür bin ich gut genug. Wahrscheinlich denkt sie sich jetzt auch, dass sie weniger Arger kriegt, sollte man uns doch zusammen sehen, weil ich ja vielleicht auf die Akademie komme. Den Leuten hier scheint die Idee zu gefallen.“ Sein Ton wurde ironisch. „Macht schon einen Unterschied, wenn der Indianer Uniform trägt.“
Plötzlich erschien es Mary als schlechten Einfall, diese Nachricht auf der Sitzung verkündet zu haben. „Meinst du, ich hätte nichts sagen sollen?“
„Das mussten Sie wohl, unter den gegebenen Umständen“, erwiderte er und Mary wurde klar, dass Joe Bescheid wusste. „Es setzt mich unter Druck, es zu schaffen. Denn wenn ich nicht angenommen werde, dann zerreißen sie sich alle das Maul, dass der Indianer eben' doch nicht das Zeug dazu hat. So ist das gar nicht mal schlecht. Je mehr es mich antreibt, desto näher bin ich der Möglichkeit, auf die Akademie zu kommen.“
Im Stillen dachte Mary, dass Joe sich selbst schon genug unter Druck setzte. Sie lenkte das Gespräch zurück auf Pam. „Stört es dich, dass sie dich ausgerechnet jetzt fragt?“
„Es hat mich wütend gemacht. Und noch wütender macht es mich, dass ich ihr einen Korb geben musste. Ich würde sie wirklich gern in die Finger bekommen ..." Er brach abrupt ab und sah Mary mit einem viel zu
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