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Das Land des letzten Orakels

Titel: Das Land des letzten Orakels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Whitley
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holen?«
    »Es ist … es ist keine Krankheit, die ich kenne«, sagte Ben mit bleichem Gesicht. »Mark, aus seinem Mund riecht es sonderbar; ich habe so einen Geruch erst einmal zuvor gerochen …« Sie wandte sich ihm zu und bedeutete ihm, noch näher zu kommen, damit keiner sonst sie hören konnte.
    »Mark, ich glaube, man hat ihn vergiftet.«

KAPITEL 18
    Reisen
    Den Sonnenuntergang ließ Lily sich nie entgehen.
    In ihren ersten Wochen im Sanatorium war es ihre einzige verlässliche Methode gewesen, die Tage zu zählen. Den Sonnenaufgang hingegen verpasste sie für gewöhnlich. Ihr Schlaf war unruhig, voll schrecklicher Träume, sowohl vom Alptraum befallene als auch normale, und Honorius hatte darauf bestanden, dass sie ihre Ruhe brauchte, selbst wenn das hieß, dass sie bis zum Mittag schlief.
    Doch Sonnenuntergänge waren etwas anderes. Auf Lily wirkten sie beruhigend. Selbst in ihrem halb benebelten Zustand genoss sie es, wie der Himmel von zarten Rosa- und Rottönen durchzogen wurde, so als atme der Tag aus und würde seine Sorgen loslassen, bis die Sonne selbst dankbar unter der sich kräuselnden Oberfläche des Meeres versank.
    Als sie ihr Gewicht verlagerte, knarrten unter ihr die Planken. Sie erinnerte sich an den Moment, als sie das Sanatorium zum ersten Mal erblickt hatte – ein großes, hinter der Kathedrale auf dem Meer schwimmendes Holzgebäude. Es war gebaut wie ein Hausboot, aber weit größer, mit hoch aufragenden Holzmasten, um die riesige Segel aus rotem Stoff gewickelt worden waren. Damals, als Laud sie mehr oder weniger durch die Sümpfe geschleppt hatte, war sie so müde und ihr Verstand so umnebelt gewesen, dass sie nicht länger darüber nachgedacht hatte. Erst später hatte Honorius ihr erzählt, es sei ein hochseetaugliches Schiff, das letzte, das jemals von den Ländern jenseits des Meeres herübergekommen war, sein Frachtraum voll mit jenen Münzen, die nun die Kathedrale der Verlorenen schmückten. Man hatte es verrotten lassen, vertäut hinter der Landzunge am Rand der Sümpfe. Als Honorius dann in die Kathedrale gekommen war, für immer aus Agora verbannt wie sie, hatte er eine Verwendung für das Schiff gefunden. Offiziell war er lediglich der vernarbte Pförtner der Kathedrale. Doch seiner wahren Berufung ging er hier nach und versuchte die Seelen derjenigen zu heilen, die er den Klauen des Alptraums entriss.
    Er war ein guter Heiler. Fast war er selbst einmal Opfer des Alptraums geworden und hatte diesen Schmerz nie mehr vergessen. Es gab zwar nur wenige Patienten, doch mit diesen arbeitete er unermüdlich zusammen, sorgte dafür, dass jeder seine Kabine erhielt, wo ihr nächtliches Geschrei und Jammern die anderen nicht stören würde. Im Verlauf der letzten drei Monate war dieses lange in Vergessenheit geratene Schiff ihr Zuhause gewesen. Laud blieb in der Kathedrale; er meinte, das auf dem Wasser schlingernde Schiff mache ihn krank, doch Lily hatte es nie gestört. Es gab viel zu viele andere Dinge, die ihr auf der Seele brannten.
    Zunächst hatte sich Lily ihrer Behandlung widersetzt. Einem Mann, den sie kaum kannte, hatte sie sich nicht öffnen können. Bis Honorius dann eines Tages mit einem Besucher gekommen war. Es war Wulfric – jener gisethische Jäger, der sie beim ersten Mal zur Kathedrale geführt hatte, jener Mann, den der Alptraum dazu gebracht hatte, auf sie loszugehen. Lily hatte damit gerechnet, Angst vor ihm zu haben, aber seltsamerweise war das Gegenteil der Fall. Die kochende Wut, die ihn angetrieben hatte, war verraucht, und ihm selbst war es bei ihrer Begegnung offenkundig unbehaglicher zumute als ihr. Honorius erzählte, Wulfric habe lange über seinen Zorn meditiert, und Lily erinnere ihn daran, zu was der Alptraum ihn beinahe getrieben hatte, nämlich dass er sie in wahnhafter Raserei fast getötet hätte. Nun aber stellte er sich seiner Vergangenheit mutig entgegen. Das Wissen, dass er seine Wut kontrollieren konnte, wenn er es wollte, machte ihn stark gegenüber dem Geflüster des Alptraums. Von allen Patienten von Honorius machte Wulfric die größten Fortschritte. Natürlich war er nach wie vor verbittert, aber demütig und ruhiger denn je.
    Nachdem Lily dies erkannt hatte, hatte sie sich allmählich geöffnet, und der Heilungsprozess hatte begonnen.
    Das war zugegebenermaßen der andere Grund dafür, dass sie den Sonnenuntergang beobachtete. Er war Teil ihres Heilungsprozesses und veranlasste sie dazu, sich mit ihren übrigen Problemen

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