Das Land des letzten Orakels
beißendem Sarkasmus. »Du hast keine Zeit verloren, dich Crede an den Hals zu werfen. Hast du je wirklich daran geglaubt? Oder wolltest du dich bloß an den mächtigsten Mann in der Gegend klammern, wie du es immer tust?«
»Hör auf damit! Hör auf damit!« Cherubina fuhr zurück, doch Mark war noch nicht fertig mit ihr. Die ganze Anspannung der vergangenen Wochen platzte aus ihm heraus.
»Du kleines, zickiges Mädchen!«, rief er. »Ja, gut, du musstest eine schreckliche Zeit durchmachen, als du Snutworths Gattin warst. Keiner behauptet das Gegenteil. Aber weißt du was? Es gibt hier Leute, denen es noch schlechter ergangen ist. Sie sterben, leiden und bluten wegen der Revolution, die du nur wolltest, um dich zu revanchieren! Crede hat wenigstens daran geglaubt! Auf seine verdrehte Art und Weise wollte er das Beste für andere. Und ich hatte die ganze Zeit geglaubt, da wäre ein kleiner Teil in dir, der nicht nur an sich selbst denkt. Aber nein, du nimmst einen unserer beiden Metalltöpfe, die einzige Möglichkeit, in dieser von der Seuche heimgesuchten Stadt zu überleben, und willst ihn ins Feuer werfen, nur weil du nicht über deine Dämonen hinwegkommst!«
Cherubina ergriff eine Schere. Einen schrecklichen Moment glaubte Mark, sie werde ihn angreifen. Doch dann hackte sie damit auf die Vorderseite der Puppe ein, sodass Stoff und Baumwolle auseinanderstoben. Immer wieder stach sie wie rasend zu, riss der Puppe mit einem heftigen Stoß die Brust auf, holte den Topf heraus und warf ihn zu Boden, wo er klappernd landete.
»Da hast du ihn!«, sagte sie heiser. »Nimm ihn und … geh einfach weg!«, schrie sie, während ihr die Tränen kamen. Mark wollte etwas sagen, doch Cherubina wandte ihm den Rücken zu, sodass er den Topf aufhob und wütend aus dem Zimmer stürmte, vorbei an der höhnisch grinsenden Miss Devine. Wie konnte sie nur so denken? Nahm sie denn die Leute um sich herum nicht wahr? Konnte sie sich überhaupt nicht in das Leben eines anderen hineinversetzen? Sie war so blind wie … wie …
Er blieb mitten im Laden stehen, nur wenige Schritte vor dem Ausgang.
So blind, wie er selbst vor nicht einmal zwei Jahren gewesen war.
Er hatte im höchsten Turm der Stadt gewohnt und über das Schicksal von Menschen entschieden, denen er nie begegnet war. Während Snutworth ihn zum Narren gehalten hatte, hatte er selbst sich für mächtig gehalten. Doch der Kochtopf, den er nun in den Händen hielt, würde mehr Leben verändern als alles, was er damals bewegt hatte. Das war echte Macht, und er hatte Jahre benötigt, um das zu begreifen.
Er schaute auf sein Spiegelbild auf dem zerbeulten Messingtopf. Cherubina war zwar älter als er, aber innerlich noch ein Kind. Sie war so aufgewachsen, hatte stets Anweisungen erhalten, immer gesagt bekommen, sie solle sich den Menschen, die sie umgaben, anpassen. Und nun hatte er das Gleiche getan, obwohl er ihr die Augen hätte öffnen können. Genau wie Lily es bei ihm getan hatte.
Er durfte sie jetzt nicht im Stich lassen.
Er stellte den Kochtopf ab, drehte sich um und schob den Vorhang beiseite. Er wollte schon in den Flur eilen, als er innehielt. Er hörte Stimmen aus dem dahinter liegenden Zimmer.
»Quälen Sie sich nicht, meine Liebe«, sagte Miss Devine gerade. »Er begreift nicht. Keiner begreift es.«
»Er ist so … so arrogant!«, schniefte Cherubina. »Er glaubt ständig, er weiß alles am besten, dabei hat er mehr Fehler gemacht als die meisten, die ich kenne. Und er ist faul, macht nie Pläne und … und …«
Weinen war zu vernehmen. Mark fuhr zurück.
»Na, kommen Sie«, sagte Miss Devine zärtlich. »Ich könnte dafür sorgen, dass diese ganzen Gefühle verschwinden …«
»Nein«, murmelte Cherubina. »Ich will nicht, dass mir dieses Gefühl genommen wird. Ich … ich weiß nicht, wie es ohne sein würde. Es hält mich am Leben … in … dieser leeren Welt.« Durch das Schluchzen hörte Mark ein scheuerndes Geräusch heraus, so als hätte sie die Puppe getreten. »Leer wie er. Wie Snutworth … wie ich …«
»Ach, meine Beste«, sagte Miss Devine nun mit vor Mitgefühl triefender Stimme. »Sie verstehen nicht. Ich brauche dazu nicht meine Maschine zu benutzen. Ich kann diese Gefühle auf ganz andere Art und Weise verschwinden lassen. All Ihre Sorgen … von jetzt auf gleich verschwunden …«
Mark hörte eine Veränderung in dem Tonfall ihrer Stimme. Es war nur eine Nuance, aber Miss Devines Stimme hörte sich auf einmal weniger freundlich an.
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