Das Land des letzten Orakels
zugehört.«
Lily blickte zu ihm auf. Sein Gesicht mit den großen, melancholischen Augen schien so fremd, war aber in diesem Moment sehr herzlich. Sie musste lachen.
»Warum nicht?«, sagte sie leise. Für den Fall, dass sie ihn damit gekränkt hatte, fügte sie hinzu: »Ich meine, ich würde es liebend gern tun.«
Der Dirigent lächelte unsicher und zog dann den Vorhang vor seiner Höhle beiseite. Lily rappelte sich auf, um ihm zu folgen. Hinter ihm sah sie andere Naruvaner, die sich in Richtung der zentralen Höhle bewegten. Ihr fiel auf, dass das Licht aus dem Mittelpunkt gedämpfter geworden war. Nun konnte sie ihn besser erkennen; es war ein hoher, aber natürlicher Kristallturm, der aus einer tiefen Felsspalte emporragte. Überall um ihn herum versammelten sich nun Naruvaner, getrennt nach Männern und Frauen, auf halbrunden, in die Höhlenwände gemeißelten Plattformen. Lily erkannte Tertius und Septima, die sich gerade auf gegenüberliegenden Seiten des Mittelpunktes hinsetzten.
»Ich muss meinen Platz einnehmen«, entschuldigte sich der Dirigent. »Bitte suchen Sie sich einen bequemen Sitzplatz.«
Während er sich entfernte, setzte sich Lily mit gekreuzten Beinen auf den Boden und war gespannt, was nun geschehen würde. Sie sah zu, wie der Dirigent sich hinter ein Felspult stellte und mit seinem Taktstock darauf schlug, um das rumorende Stimmengewirr verstummen zu lassen.
In der plötzlichen Stille vernahm Lily erneut ein fernes Echo von Stimmen. Es klang ein wenig wie die Kakophonie, doch geordneter, kontrollierter. Fast wie ein Herzschlag oder das Anschwellen und Wogen der Gezeiten.
Dann hörte Lily, dass Septima zu singen begann. Leise zunächst, dann jedoch mit wachsender Stärke; es war ein herrliches Solo, das höher, immer höher erklang. Nach und nach stimmten die anderen Frauen mit ein, und schließlich folgten ihnen die Männer mit einem sprühenden Feuerwerk aus Tönen.
Beinahe hätte Lily gelacht. Denn obwohl sie Tertius und Septima ständig von »dem Chor« hatte reden hören, hatte sie nicht begriffen, dass dies wortwörtlich gemeint gewesen war.
In dem Lied kamen Worte vor, die fast alles beschrieben. Lily schnappte Fetzen auf, in denen Liebesglück, Elternleid, Lachen, Furcht und Qual ausgedrückt wurden. Das Licht aus dem Mittelpunkt verstärkte sich; eine Million unterschiedliche Farben rangen in seinen rauchigen Tiefen um die Vorherrschaft. Dann schwang der Dirigent seinen Taktstock, und die Stimmen verschmolzen zu einer einzigen, aufsteigenden Melodie, die sich erhob und harmonischer wurde und von den Kristallwänden der Höhle widerhallte, bis der ganze Raum durch ihre Vibrationen surrte und der Mittelpunkt in einem blendenden Himmelblau erstrahlte, sodass Lily das Gefühl hatte, sie stünde unter dem Sommerhimmel.
Und für diesen einen Augenblick fühlte sich Lily in Hochstimmung, trotz ihrer Müdigkeit und Verwirrung, trotz ihrer Anspannung. Die Fragen konnten bis morgen warten. Für den Moment war sie glücklich damit, einfach hier zu sitzen und darüber zu staunen, dass ein so verrückter, unglaublicher Ort etwas derart Schönes hervorzubringen vermochte.
KAPITEL 6
Die Warnung
»Bist du dir sicher damit?«
Mark richtete den breiten Dreispitz so aus, dass er sein Gesicht verdeckte, und wandte sich um.
»Ich muss es versuchen, Ben. Ich kann Cherubina nicht bei Crede lassen.«
Benedicta nickte. Sie war an diesem Morgen zu Besuch gekommen, um seinen Vater zu entschuldigen, der erst am Nachmittag würde kommen können. Sie war kaum zehn Minuten hier gewesen, als Mark ihr ausführlich seinen Plan erläutert hatte.
»Ich weiß, dass Crede gefährlich ist«, sagte Ben und runzelte die Stirn, »aber Laud könnte doch auch zu ihm gehen und mit ihm reden – oder Theo vielleicht? Was, wenn die Eintreiber dich entdecken?«
»Die Eintreiber sind viel zu sehr mit Credes Pöbelhaufen beschäftigt, als dass sie sich um mich kümmern würden«, sagte Mark überzeugter, als ihm zumute war. »Außerdem, glaubst du, dass ich in Sicherheit bin, wenn Cherubina Crede alles erzählt? Wahrscheinlich verrät er den Eintreibern meinen Aufenthaltsort im Gegenzug dafür, dass sie ihn in Ruhe lassen.« Er schaute Ben an und versuchte zu lächeln. »Wirst du Dad ablenken?«
Ben nickte, schien aber nicht glücklich über die Vorstellung zu sein. »Ich werde direkt zum Gefängnis gehen und ihn in ein Gespräch verwickeln. Solange du bis zur vierten Stunde zurück bist, wird es kein Problem sein,
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