Das Land des letzten Orakels
Währenddessen pflanzten sich die beiden voreinander auf, eine Fußlänge voneinander entfernt, die Gesichter errötet vor Anstrengung.
Währenddessen trat der Dirigent näher an den Karren heran und bedachte Lily mit einem matten Lächeln, während er sich seinen Taktstock hinter das Ohr klemmte.
»Möchten Sie eine Erfrischung, junges Ding? Ich fürchte, dieser Streit wird noch ein wenig andauern.«
Benommen, müde und vollkommen verwirrt nickte Lily und stieg aus dem Karren. Von den Menschen stumm beobachtet, die sich in der Nähe der leuchtenden Säule versammelt hatten, folgte sie dem Dirigenten, während ihr das Gekreische ihrer ehemaligen Freunde in den Ohren klang.
Zehn Minuten und eine Tasse starken Tee später fühlte sich Lily ein wenig besser.
»Sie meinen … die beiden waren überhaupt nicht auf der Flucht? Wirklich?«, fragte sie und konnte es immer noch nicht ganz fassen. Der Dirigent zuckte mit den Schultern. Er hatte sie zu seiner komfortabel eingerichteten Höhle mitgenommen, nur wenige Minuten Fußmarsch entfernt. Der nackte Fels war mit Überwürfen und Teppichen verkleidet, und der Dirigent hatte darauf bestanden, dass sie sich auf eine große, mit Federn gefüllte Segeltuchtasche setzte. Er selbst blieb in der Ecke stehen und beschäftigte sich mit einem kleinen Ofen, auf dem er das Wasser für einen Tee erhitzte. Die kleine Flamme warf einen seidigen Schimmer auf seine Gesichtszüge, im Kontrast zu dem kalten Licht aus der matt schimmernden Kristallansammlung an der Decke.
»Auf gewisse Weise waren sie es schon«, erwiderte er nachdenklich, während er den Tee umrührte. »Vor ein paar Wochen sind sie verschwunden. Manche aus ihrer Gruppe sagten, sie wären von der Wanderlust befallen worden. Deswegen habe ich den Wächtern natürlich befohlen, auf sie achtzugeben. Wir haben einige Proviantpakete auf ihrem Weg deponiert, gerade so viel, dass sie damit auskamen. Ich muss zugeben, dass ich mich auf Ihre Ankunft freute, kaum dass die Wächter mir von Ihnen berichteten. Orchestermitglieder sind hier zwar weder unbekannt noch unerwünscht, aber es ist schon Jahre her, dass wir Besucher hatten. Ich war versucht, Ihre Gefährten in den Mittelpunkt einzuladen, als es vor ein paar Tagen so aussah, als wollten sie Sie im Stich lassen. Aber letzten Endes bin ich froh, dass wir es nicht getan haben. Man muss Wanderer unbedingt aus freiem Willen zurückkehren lassen.«
»Aber sie haben mir gesagt, Sie wären grausam zu ihnen gewesen, hätten ihre Freunde verletzt …«
Der Dirigent runzelte die Stirn und kratzte sich am Kinn. »Nun, mag sein, dass ich mich vor ein paar Wochen kritisch gegenüber den Tenorstimmen geäußert habe. Wen die Wanderlust überfällt, der sucht nach Ausreden.« Der Dirigent lehnte sich zurück und verschränkte die Hände vor dem Bauch. »Ich erinnere mich daran, dass man mir, als ich den Mittelpunkt zum ersten Mal verließ, drei Trauben weniger gab als meinem Freund. Das habe ich in meinen Gedanken dann wahrhaftig zu einer Verschwörung gegen die Baritone hochgespielt – ich brauchte fast zwei Monate, bevor ich wieder zurückkehrte.« Er kicherte und kam zu ihr herüber, um sich auf einen Stuhl zu setzen. Er hielt ihr eine grobe Holzplatte entgegen. »Möchten Sie ein Stück Kuchen? Ich habe ihn selbst gebacken und mal etwas ganz Neues ausprobiert.«
Es war schon Stunden her, dass Lily etwas gegessen hatte. Behutsam nahm sie sich ein Stück Kuchen. Er war zwar trocken, aber genießbar. Während sie kaute, versuchte sie ihre Gedanken zu sortieren. Einfach war das nicht. Immer wenn sie diesen Ort allmählich zu verstehen glaubte, war es, als ändere jemand sämtliche Regeln. Agora und Giseth hatten ihre Geheimnisse, aber zumindest hatte es dort auch Beständigkeit gegeben. Alles hingegen, was sie über Naru in Erfahrung gebracht hatte, änderte sich offenbar von jetzt auf gleich. Wer vermochte schon zu sagen, ob der Dirigent nun die Wahrheit sprach? Tee und Kuchen waren kein Beweis für Vertrauenswürdigkeit.
»Was denken Sie?«, fragte der Dirigent gespannt, während er sich seinerseits ein Stück Kuchen nahm. »Unsere Lebensmittel kommen in Paketen aus Giseth, die in Kisten herabgelassen werden. Die Gisethi glauben, dass sie damit uralte Geister der Erde besänftigen, und auf diese Weise ist dafür gesorgt, dass wir gute, wenn auch ein wenig fade Rationen bekommen. Hier unten wächst sehr wenig. Ich bin so froh, dass sie uns dieses Mal ein paar Säcke Korn mitgegeben
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