Das Land des letzten Orakels
haben, auch wenn ich fürchte, dass nur wenige Chormitglieder die Geduld aufbringen, etwas zu backen.«
Lily nickte verwirrt. »Ich habe so viele Fragen«, murmelte sie, »aber ich bin nicht sicher, ob ich sie stellen kann. Ich möchte mit meinen Geheimnissen lieber nicht herausrücken …«
»Oh, machen Sie sich deswegen keine Sorgen, Miss Lily«, sagte der Dirigent freundlich. »Sie sind ein äußerst ungewöhnlicher Fall. Für das Vergnügen, mich mit jemand Neuem zu unterhalten, gebe ich unseren üblichen Brauch des Handelns um Wissen nur zu gerne auf. In Naru sind Außenseiter wirklich selten, und da Ihr Weg Sie nun einmal hierherführte, sollten Sie meiner Meinung nach auch als Ehrengast behandelt werden. Ich stelle Ihnen das wenige, was ich besitze, zur Verfügung. Essen, Bequemlichkeit … und ein paar Leckerbissen Wahrheit.«
Lily wirkte leicht beschämt ob ihres Misstrauens. »Sie sind sehr großzügig«, sagte sie aufrichtig.
Der Dirigent schüttelte den Kopf. »Sie zahlen es mir tausendfach auf eine Art zurück, die Ihre Reisegefährten nie wirklich zu würdigen wussten. Ein echtes Mitglied des Orchesters zu sehen, sich über die Ländereien oben zu unterhalten und sie zu verstehen …« Einen Moment lang blickte er Lily eindringlich an, und dabei lag ein Funkeln in seinen dunklen Augen. »Das ist etwas Seltenes und Wertvolles, wertvoller für mich, als Sie es sich vorstellen können. Ich hätte nie gedacht, dass es in meiner Zeit als Dirigent dazu kommen würde. Sie sind wirklich ein Wunder, meine Liebe, ein wahrhaftiges Wunder.«
Lily wusste, dass er es freundlich meinte, doch dieses Wort zu hören, ließ es ihr kalt über den Rücken laufen.
»So haben mich Tertius und Septima auch genannt«, murmelte sie. »Ich habe mich gefühlt, als wäre ich das Eigentum von jemandem.«
»Tertius? Septima? Wer …«, begann der Dirigent. Dann zerfurchte ein Ausdruck des Begreifens sein Gesicht. »Ach, waren das die Namen, die Ihre Gefährten sich ausgesucht haben? Ja, ja, das sieht ihnen ähnlich. Sie nehmen häufig Namen an, die auf ihren Ziffern beruhen …«
»Das waren gar nicht ihre echten Namen?«, murmelte Lily matt, die kaum noch von irgendetwas überrascht werden konnte.
Nachdenklich aß der Dirigent seinen Kuchen auf. »Sie waren für eine kurze Zeit echt, aber nicht wirklich dauerhaft. Um ehrlich zu sein, Miss Lily, bin ich überrascht, dass sie sie nicht unterwegs geändert haben. Die Chorsänger nehmen häufiger eine neue Identität an, als sie ihre Kleider wechseln. Es erlaubt ihnen, ihr Wissen von verschiedenen Seiten zu betrachten; sie können so jeden Gedanken verfolgen, ohne Gefahr zu laufen, einem Glauben oder einer Vorstellung anzuhängen. Sopran Sieben und Tenor Drei – pardon, Septima und Tertius – haben ihre Namen ungewöhnlich lange beibehalten, doch so etwas kann die Wanderlust verursachen. Wenn die Welt aufregender wird, nimmt die Selbstbezogenheit ab.«
Lily stellte ihre Tasse ab. Sie bemühte sich, dies alles zu begreifen, vermochte es jedoch nicht. Es war zu viel, zu fremdartig. Schließlich konzentrierte sie sich auf den Raum um sie herum, diese seltsame Mischung aus Sonderbarem und Vertrautem. Der Herd, die Lebensmittelkiste, die Stühle und der Tisch. Das alles war normal, wenn auch ein wenig sonderbar arrangiert, damit es in diese Höhle hineinpasste. Der ganze Raum war erhellt von einem leuchtenden Kristall, dessen Licht floss und pulsierte, als wäre darin ein Schwarm glühender Staubkörnchen gefangen.
»So etwas geschieht also häufig«, sagte Lily, bemüht, dabei mitfühlend zu klingen.
Der Dirigent nickte. »Außer den Allerjüngsten singen alle im Chor, nachdem sie ihre Lehrer verlassen haben. Es ist ein sehr behütetes Leben, und deshalb befällt die meisten Chorsänger irgendwann einmal die Wanderlust. Ich erinnere mich daran, wie mein Lehrer mir sagte, ein Dirigent müsse immer darauf gefasst sein, eine Vorstellung zu beginnen und dabei festzustellen, dass ihm die Hälfte seiner besten Sänger verloren gegangen ist. Allerdings ist es selten so schlimm gekommen.« Der Dirigent nippte an seinem Tee. »Ganz ehrlich, es fällt mir schwer, es ihnen zu verübeln. Das Leben hier ist ein wenig enttäuschend. Wir verbringen unseren Wachzustand damit, Informationen aufzusaugen, indem wir die Echos ferner Leben abhören. Wir kennen mehr Fakten über die Ländereien über uns als die meisten von euch, die ihr dort lebt. Aber nur mit Hilfe von Erfahrung könnten wir
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