Das Land des letzten Orakels
diese Fakten zusammenfügen und ein klares Bild der Welt formen … das ist eine ganz andere Sache.« Wehmütig rieb er sich den Handrücken. »Die meisten von uns könnten Ihnen genau erklären, warum die Tage länger oder kürzer im Jahr werden, aber wir haben noch nie die Sonne gesehen. Wir richten unser Leben nach Stunden und Wochen, die in diesen Höhlen gar nichts bedeuten. Und die für uns wichtigsten Dinge sind solche, die man nicht berühren kann.«
Unwillkürlich streckte Lily die Hand aus, um die Schulter des Dirigenten zu berühren. Reflexartig wich dieser zurück.
»Verzeihen Sie, das war nicht böse gemeint. Ich weiß, dass dies in Ihrer Kultur eine Geste des Mitgefühls ist, aber …«
»Nein, es tut mir leid«, sagte Lily beschämt. Sie erinnerte sich an die Art und Weise, wie ihre ehemaligen Freunde auf die Vorstellung eines Körperkontakts reagiert hatten, nämlich so, als wäre dies etwas Obszönes.
»Das Tabu der Berührung gehört seit alten Zeiten zu unserer Kultur«, erklärte der Dirigent, »und wird uns von der Wiege an beigebracht. Ich vermute, ursprünglich sollte es dafür sorgen, dass wir alle hier in Naru bleiben.« Traurig schaute er auf seine Hände hinab. »Ohne diese Furcht wären wir womöglich alle der Wanderlust erlegen und hätten uns schon lange dem Orchester angeschlossen. Doch unsere Bestimmung ist es, Wissen zu sammeln, und nicht, das wahre Leben zu erfahren. Der Gedanke, wie ihr in den Ländereien oben lebt, zusammengedrängt, den Atem des anderen auf dem Gesicht spürend …« Er schauderte. »Unser Dasein ist reiner, frei von so viel Kompliziertheit. Doch vielleicht begreifen die Wanderer, und sei es auch nur für einen Moment, was wir verloren haben.«
Lily stellte ihre leere Teetasse ab. Ihr drehte sich der Kopf. »Dieser Ort ist ganz anders, als ich es erwartet hatte.«
»Tatsächlich?« Der Dirigent lächelte. »Und wie hatten Sie ihn sich vorgestellt?«
»Ich erwartete …« Lily runzelte die Stirn, während sie überlegte, wie sie es ausdrücken sollte. Die Wahrheit überraschte sie selbst ein wenig. »Antworten. Ich hatte erwartet, ich müsste lediglich die Stufen hinabgehen, und dann würde jemand auf mich warten, der alles weiß. Der mir erklären könnte, warum sich, solange ich denken kann, Menschen in mein Leben eingemischt haben. Warum mein Vater mich als Waisenkind hat aufziehen lassen, warum mir überall Verschwörungen begegnen … Es sollte alles ganz einfach werden.« In Anbetracht der Absurdität, die in allem lag, konnte sich Lily ein Lächeln nicht verkneifen.
Der Dirigent stellte seine Tasse ab. »Sie haben Harmonie gesucht. Das verwundert nicht. Wir alle sind bis zu einem gewissen Grad mit Fakten und halb ausgegorenen Vorstellungen überladen und suchen nach einem Muster, in das sie hineinpassen. Nun, Naru kann sicher Antworten liefern, wenn man bereit ist, sie zu finden.« Er lächelte. »Wir müssen uns weiter unterhalten. Es wäre faszinierend zu sehen, ob ich recht habe in Bezug auf einige Geheimnisse von Agora. Und dann ist da natürlich noch das Orakel. Sie will Sie sehen.«
Lily wollte Fragen über das Orakel stellen, das wollte sie wirklich. Doch im Moment gab es zu viel, über das sie nachdenken musste, zu viele verwirrende Gedanken, die ihr durch den Kopf gingen. Sie spürte, wie ein Schauer sie durchfuhr. Bis zum heutigen Tag hatte sie den Dirigenten für jemanden gehalten, den man fürchten musste – den tyrannischen Herrscher über diese dunkle, klaustrophobische Unterwelt. Daran hatte sie sich geklammert, an das einzige solide Wissen in diesem merkwürdigen neuen Land. Und nun, da sie ihm hier unten begegnet war, war er fast so etwas wie ein Freund.
Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, was Mark wohl tun würde.
»Ich habe so viele Fragen …«, sagte Lily skeptisch. »Aber ich glaube, sie können warten.«
Der Dirigent erweckte den Eindruck, als wolle er erneut etwas sagen. Doch plötzlich hörte Lily in der Ferne etwas – eine menschliche Stimme, die einen Ton sang. Leise und rein hallte er in den Höhlen wider.
Der Dirigent erhob sich. »Nachdem Sie geschlafen haben, wird das Orakel Ihre Fragen in richtiger Art und Weise beantworten. Aber jetzt ist es Zeit für das Gezeitenkonzert.« Er holte den Taktstock hinter seinem Ohr hervor und verbeugte sich schüchtern vor Lily. »Es wäre mir eine Ehre, wenn Sie mitkommen und zuhören würden. Seit ich Dirigent bin, hat noch nie ein Mitglied des Orchesters dem Chor
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