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Das Land des letzten Orakels

Titel: Das Land des letzten Orakels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Whitley
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aus dem erschöpft und verängstigt wirkenden Gesicht. »Du bist nicht perfekt, und warum solltest du das auch sein?« Er sah ihr in die Augen. »Aber für mich bist du es beinahe.«
    Lily hielt seinem Blick stand. Eine Weile sagten sie beide gar nichts. Laud fühlte ihren Herzschlag.
    Dann öffnete sie den Mund und wimmerte.
    Es war ein lang gezogenes, schmerzerfülltes Wimmern wie das Weinen eines Babys. Laud zog sie an sich und hielt sie fest. Er hielt sie, bis ihm die Ohren dröhnten und das Herz stockte. Das Geräusch brachte den Nebel überall um sie beide herum dazu, sich zu winden, zu krümmen und zu beben.
    Laud ließ nicht los. Auch nicht, als ihr Weinen sich erst in ein Krächzen und dann in ein Schluchzen verwandelte.
    »Ich … ich …«, begann Lily mit schwacher Stimme.
    »Lässt du eigentlich nie jemand anderen zu Wort kommen?«, fragte Laud sie liebevoll.
    Lily zog sich ein wenig zurück; ihre Augen waren klar, blickten aber unendlich müde. »Es ist bloß … schau doch …«, sagte sie und deutete mit zitterndem Finger hinter ihn.
    Laud drehte sich um und schaute. In der Ferne, weit jenseits der Sümpfe, erblickte er den Sonnenuntergang.
    »Der Nebel … er ist weg …«, murmelte Lily und geriet ins Schwanken.
    Laud fing sie auf, bevor sie den Boden berührte.

KAPITEL 16
    Die Bestrafung
    »Sie müssen zugeben, Chefinspektor, dass nicht ganz das erreicht wurde, was Sie vorhergesagt hatten.«
    Greaves starrte zu Boden, aber nicht aus Scham. Er wusste, dass seine Verhandlungen zunächst erfolgreich gewesen waren. Hätten er und Crede die Möglichkeit gehabt, länger miteinander zu sprechen, dann hätten sie in der Stadt, die sie beide liebten, womöglich den Frieden wiederhergestellt. Es gab nichts, wessen er sich hätte schämen müssen.
    Nein, er blickte zu Boden, weil er befürchtete, sich zu vergessen und sich seine Verachtung ansehen zu lassen, wenn er dem Direktor in die Augen schaute.
    Mit Lady Astreas Zorn war er im Lauf der vergangenen Wochen bereits mehrfach konfrontiert worden. Ihr konnte er das nachsehen – sie war seine Vorgesetzte, und ihr Zuhause, der ehemalige Turm des Sterndeuters, lag viel zu dicht an der Barrikade, sodass sie nicht länger dort wohnen konnte. Sie war mitten in der Nacht aus dem Turm geflohen, fassungslos im Direktorium angekommen und hatte dort einen Sündenbock gesucht. Zu diesem Treffen jetzt war sie nicht erschienen. Soweit er es beurteilen konnte, verbrachte sie einen Großteil ihrer Zeit in den Bibliotheken des Direktoriums, wo sie in Gefangenenakten nachlas. Warum sie das tat, hatte er nicht gefragt.
    Nein, Astreas Zorn war gerechtfertigt; sie wollte genauso wenig wie er, dass diese Stadt geteilt wurde. Doch als sich der Direktor nun in dem riesigen, von Kerzenlicht beleuchteten Büro hinter seinen Mahagonischreibtisch setzte, war Greaves davon überzeugt, in seiner Stimme einen Anflug von Triumph herauszuhören.
    »In der Tat, Sir«, sagte Greaves schließlich. »Es ist nicht das erreicht worden, was ich erhofft hatte.«
    Der Direktor nickte nachdenklich. »Es freut mich zu sehen, dass Sie so gefasst sind, Chefinspektor. Wir werden in den kommenden Wochen unsere klare Linie beibehalten müssen.«
    »Unbedingt, Sir«, sagte Greaves. »Mit Ihrer Erlaubnis würde ich gern einige Angestellte des Direktoriums rekrutieren, um sie auf die andere Seite der Barrikaden zu schicken und dort erneut Gespräche einzuleiten. Ich fürchte, der Anblick einer Eintreiberuniform wäre im Moment nicht willkommen, doch wir benötigen einen offiziellen Vertreter auf der von den Aufständischen beherrschten Seite der Stadt …«
    »Es wird keine Gespräche geben, Chefinspektor«, sagte der Direktor leise.
    »Sir, es sind nun bereits fast drei Wochen vergangen«, fuhr Greaves fort. »Wir mussten ihnen natürlich Zeit lassen, um Credes Tod zu betrauern. Aber nun, da sich die erste Aufregung gelegt hat, wäre dies der perfekte Zeitpunkt, um Frieden anzustreben.«
    »Es wird keine Gespräche geben«, wiederholte der Direktor, während er sich mit seinen Unterlagen beschäftigte. »Keine Verhandlungen, keine Kompromisse. Die Revolutionäre haben beschlossen, sich dem Direktorium, sich Agora zu widersetzen. Sie haben unsere Führung gegen ihre eigene Herrschaft eingetauscht. Deshalb werden sie in einer Stadt ohne Schutz oder Ordnung leben. Und ohne Lebensmittel.« Der Direktor blickte auf und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Die Vorräte in den Lagerhäusern flussabwärts werden

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