Das Land des letzten Orakels
wieder inne. Lily hatte etwas aus ihrer Schürze gezogen, das im schwachen Licht schimmerte. Es war ein kurzes, scharfes Jagdmesser.
»Ich muss die Alpträume bekämpfen«, erklärte sie leise. »Nach einer einzigen Berührung zerfällst du. Und wenn du zu fest bist, dann werde ich es ein bisschen stärker versuchen müssen.« Laud trat zurück. »Weißt du, ich wünschte mir ja, du wärst echt«, sagte Lily traurig. »Ich wollte Laud so gerne wiedersehen, mehr als jeden anderen. Aber das wusstest du. Das hast du immer gewusst.«
Sie machte einen Satz nach vorn. Laud hechtete zur Seite, doch der Schlamm behinderte seine Bewegung, und Lilys Messer schnitt ihm den Hemdsärmel auf. Er griff nach Lilys Hand, um ihr das Messer zu entwinden, doch sie wehrte sich mit außerordentlicher Kraft, und er stürzte zu Boden. Dort blieb er liegen, in den Sumpf sinkend, während sie drohend über ihm aufragte.
Laud geriet in Panik. Verzweifelt versuchte er auf eine Möglichkeit zu kommen, wie er ihr beweisen konnte, dass er es wirklich war, doch seine Sinne ließen ihn im Stich. Es gelang ihm nicht, den Blick von Lilys Augen zu lösen, die normalerweise so ruhig und gelassen waren. Nun aber stand sie am Rande des Zusammenbruchs. Er konnte nicht nachdenken, konnte nicht mehr vernünftig urteilen, hatte nur immer diesen Blick im Kopf. Er hob den linken Arm, um sich zu schützen.
Lily hob erneut das Messer. Und hielt inne.
Sie hatte den Blick auf seinen Arm geheftet. Genauer gesagt auf die alte Narbe, die nun sichtbar war. Sie stammte von einer Verletzung, die ihm zugefügt worden war, als er Lily vor einem Wahnsinnigen beschützt hatte, der ebenfalls geglaubt hatte, die Welt wäre nur eine Illusion.
Das Messer fiel Lily aus den Händen und versank im Schlamm.
Sie blickte auf Laud hinunter. Tränen standen in ihren Augen.
»Laud? Du bist es wirklich, oder?«
Es war ihre Stimme – ihre echte Stimme, müde und verängstigt, aber ganz anders als der merkwürdige singende Ton von vorhin. Laud ergriff ein dickes Büschel Sumpfgras, zog sich daran hoch und setzte sich auf.
»Um das herauszufinden, hast du ganz schön lange gebraucht«, sagte er mit zitternder Stimme. Während er sprach, wurde der Nebel um sie herum noch dichter und umschlang sie wie lebende Ranken.
»Du darfst hier nicht bleiben. Ich werde selbst nicht lange hier sein«, sagte Lily rasch, während sie ihre Tränen herunterschluckte. »Ich bekomme … ein Aufblitzen von Wahrheit. Echte Visionen. Tut mir leid, Laud, dass du den ganzen Weg auf dich genommen hast und ich es nicht wert bin, gefunden zu werden.«
»Diese Bemerkung nehme ich gar nicht zur Kenntnis«, erwiderte Laud und rappelte sich auf. »Komm, du musst raus hier aus dem Sumpf, weg von dem Alptraum. In der Nähe gibt es ein Sanatorium; der Mann mit den Narben hat gesagt, er könne helfen.«
Lily schüttelte den Kopf. »Ich komme nicht mit.«
Laud runzelte die Stirn.
Er wollte sie berühren, doch Lily trat einen Schritt zurück.
»Du verstehst das nicht«, sagte sie mit bebender Stimme. »Der Alptraum wird mich nicht gehen lassen. Er ist mir aus Naru gefolgt. Er hat in dem Hohelied zu mir geflüstert und in den Wind gelacht. Er hat mich daran erinnert, was ich getan habe … zu was ich …« Lilys Augen blickten wirr, und ihr Atem ging in kurzen Stößen. »All diese Menschen – in dem Dorf Aecer, in den Stollen … All diese Toten …«
Laud ergriff mit beiden Händen ihren Kopf, um sie zu zwingen, ihn anzuschauen. »Wovon redest du?«, fragte er. »Geht es um dieses Erdbeben in Naru? Das war die Schuld des Orakels; sie hat versucht dich aufzuhalten und dabei die Kontrolle verloren …« Er wiegte ihren Kopf. »Du darfst nicht auf den Alptraum hören … er will dich bloß verwirren … Es war ein Unfall …«
»Und die Revolution in Agora?«, rief Lily und schob seine Hände weg. »Ist das auch nur ein Unfall? Der Alptraum hat jedes Mal, wenn ich schlafen wollte, die Echos der Stimmen in meinem Kopf dröhnen lassen. Hast du es nicht gehört, Laud? In dem Stollen? Hast du die Kampfrufe nicht vernommen, die Panik? Genau wie in Giseth … genau wie in Naru … Überall, wohin ich gehe, säe ich nur den Tod!«
Mittlerweile waberte der Nebel um sie herum. Und in diesem Nebel waren Gestalten zu erahnen, Gestalten, die Laud jedoch nicht genauer anschauen wollte. Es waren Wesen mit Klauen und Zähnen. Laud versuchte sich auf Lily zu konzentrieren, doch seine eigenen Ängste ließen sich nun schwerer
Weitere Kostenlose Bücher