Das Land des letzten Orakels
Hindernis darstellen. Greaves hatte ihn einmal danach gefragt, jedoch nur eines jener unangenehm dünnen Lächeln geerntet. Und die Zusicherung, Lily werde eher zurückkehren, wenn sie von ihren Freunden begleitet und nicht von ihren Feinden gefangen genommen würde.
Nichtsdestoweniger suchten die Agenten des Direktors weiter – so als wäre es das Wichtigste auf der Welt, Lily zu finden. Ja, sie war zu ihrer Zeit eine Unruhestifterin gewesen, aber von denen gab es in der Stadt mittlerweile mehr als genug. Dies war jetzt die Zeit des Handelns und nicht die Zeit, um auf uralten Prophezeiungen herumzureiten.
»Chefinspektor?«, durchbrach die Stimme des Direktors seine Gedankengänge. »Wie ich sehe, sind Sie noch immer hier. Kann ich noch etwas für Sie tun?«
Greaves wäre durchaus auf Antworten gekommen, doch die meisten durfte er in dieser heiligen Halle nicht aussprechen. Also verkniff er sie sich. Er verstand diesen Mann nicht, doch er war nach wie vor sein Direktor, sein Vorgesetzter. Und er, Greaves, würde die Herrschaft des Rechts schützen, denn gegenwärtig war dies alles, was seine arme, angeschlagene Stadt noch hatte.
»Wenn ich im Direktorium bleiben soll, was soll ich unternehmen?«, fragte er schließlich. Er musste es fragen, doch ihm gefiel nicht, wie es sich aus seinem Mund anhörte. Er war Chefeintreiber, kein Bürogehilfe.
Der Direktor sinnierte eine Weile. »Stellen Sie eine Wache vor meinem Büro auf«, sagte er dann. »Ihre besten Männer und Frauen, natürlich. Und rüsten Sie sie mit Schwertern aus, Greaves«, fügte der Direktor hinzu. »Knüppel sind schön und gut, aber unsere privaten Büros müssen besonders gesichert werden.«
»Das hört sich an, als rechneten Sie mit Ärger, Sir«, bemerkte Greaves.
Der Direktor ordnete eine Reihe von Papieren auf seinem Schreibtisch und erregte damit die Aufmerksamkeit des stummen Wolfram.
»Wir müssen uns auf alle Eventualitäten einstellen, Chefinspektor«, sagte der Direktor schließlich. »Ich vermute, wenn der Aufstand hochkocht, wird alles ganz schnell gehen. Ich bezweifle aber, dass es jetzt schon so weit ist.« Der Direktor nahm seinen Stift in die Hand. »Nein, ich denke, für den Moment wird alles ruhig bleiben.«
Besonders beruhigend fand Greaves das nicht.
KAPITEL 17
Die Schlinge
Mark legte sich die Stoffmaske über Nase und Mund und blickte auf die Frau hinab, die mit leichenblassem Gesicht und hustend auf einer der Bänke lag. Damit erging es ihr so wie allen anderen an diesem Morgen. Es war nur eine leichte Infektion, und zu normalen Zeiten hätte die Frau sie mühelos weggesteckt. Doch es herrschten keine normalen Zeiten. Da sich so viele Leute in den Elendsvierteln zusammendrängten, verbreiteten sich Krankheiten schneller denn je.
Er schaute über seine Schulter zum Altar des Tempels, auf dem Verity mit Stößel und Mörser Kräuter zerkleinerte.
»Ist Ben schon mit den Vorräten zurück?«, fragte er. Die Barrikade hatte sich am Vortag ein wenig verschoben, und nun befand sich ein wenig mehr vom Gebiet des Zwillinge-Bezirks auf ihrer Seite. Die meisten Leute hatten die Gelegenheit dazu genutzt, nach Essbarem zu suchen, doch Ben hatte erkannt, dass eines der Museen nun zugänglich war, und gehofft, dort vielleicht alte medizinische Apparate zu finden.
Ohne aufzuschauen, schüttelte Verity den Kopf. »Noch nicht«, sagte sie erschöpft. »Ich finde immer noch, sie hätte nicht allein losgehen sollen. Auf den Straßen ist es nicht sicher. Nicks Schlägertypen mögen zwar für Ordnung sorgen, aber trauen darf man denen nicht.« Sie schob sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Mark fiel diese Geste unwillkürlich ins Auge. Sie erinnerte ihn sehr an Lily.
Natürlich hatte er Verity und Theo alles erzählt, was sich in Naru ereignet hatte. Irgendwie wünschte er nun aber, er hätte es nicht getan. Es war ihm beim Erzählen nicht in den Sinn gekommen, dass Verity das Orakel kennen könnte. Er hatte ja nicht ahnen können, dass das Orakel die Frau ihres Bruders gewesen war. Unter den gegebenen Umständen war dies jedoch der Teil seiner Erzählung gewesen, den Verity am glaubhaftesten gefunden hatte.
»Das hört sich ganz nach Helen an«, hatte sie gesagt. »Sie hat sich immer schon mehr für Fakten als für Menschen interessiert. Ich habe nie verstanden, warum Thomas sie heiraten wollte. Normalerweise heiraten Mönche des Ordens nicht. Es muss wohl etwas mit dem Mitternachts-Statut oder dem Bischof zu tun gehabt haben.«
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