Das Land des letzten Orakels
Sie hatte auf ihre Hände hinabgeschaut. »Für ihn hatte alles damit zu tun.«
Seit er seine Erlebnisse erzählt hatte, hatte sie nicht mehr davon gesprochen, nicht mehr nach Lily gefragt. Doch immer wenn die Tür aufging, schaute sie mit so hoffnungsvollem Blick auf, dass Mark wusste, dass sie nicht aufgegeben hatte.
Irgendwie ging es ihm genauso. Es war achtzig Tage her, dass er Lily und Laud zum letzten Mal im Thronsaal des Orakels gesehen hatte. Inzwischen war Hochsommer, und es gab noch immer keine Nachricht von ihnen. Da sich der Abstieg des Letzten weit hinter den feindlichen Linien befand, konnte Mark auch nicht nach Naru zurückkehren und fragen, ob es Neuigkeiten gab. Sie konnten alle nichts anderes tun als warten und hoffen.
Sie brauchten Lily jetzt mehr denn je. Die Stadt befand sich im Kriegszustand. Die Barrikade hatte die Stadt in zwei Hälften geteilt – den stromaufwärts gelegenen Teil von Agora, in dem die Oberen der Gesellschaft sich im Schutz der Eintreiberstreifen versteckten, und die flussabwärts gelegenen Bezirke mit doppelt so vielen Einwohnern und halb so vielen Vorräten. Die Revolutionäre durchstreiften die Straßen, um mit Argumenten und Drohungen dafür zu sorgen, dass auf der stromabwärts gelegenen Seite jeder hinter ihrer Vision der Zukunft stand. Zweifellos taten die Eintreiber auf der anderen Seite das Gleiche.
Einige der Agitatoren hatten Lily zu so etwas wie einer Heiligen aufgebaut. Inspiriert von Crede, dem Märtyrer für die Sache, behaupteten sie, um diesen Kampf zu gewinnen, brauche man lediglich jemanden wie Lily, der sie zum Sieg führe. Für sie war sie eine Heilige und eine Retterin.
Mark wünschte, er hätte auch noch diesen Glauben.
»Mark?«
Mark wurde aus seinen Gedanken gerissen. Dr. Theophilus war zu ihm herübergekommen und sah ihn fragend an. Die dunklen Ringe unter seinen Augen waren tiefer denn je.
»Tut mir leid«, sagte Mark. »Ich dachte gerade, äh … ich meine …« Er wechselte rasch das Thema. »Ben ist schon lange unterwegs.«
Theo nickte. »Sie ist bestimmt vorsichtig, aber sie hat sich einen gefährlichen Teil der Stadt für ihre Erkundungen ausgesucht. Ich habe gehört, es sieht dort so aus, als wäre seit vielen Jahren kein Mensch mehr dort gewesen. Jedes zweite Gebäude ist nur noch eine Ruine, und die Reihe von umgestürzten Karren erstreckt sich von der Universität bis zum Turm des Sterndeuters. Praktisch jeder Eintreiber in der Stadt patrouilliert im Zwillinge-Bezirk oder auf dem großen Marktplatz.« Theo lächelte vorsichtig und machte eine ausladende Geste in Richtung der gewaltigen Menge von Menschen, die im Tempel auf dem Steinfußboden saßen oder lagen. »Wenigstens haben wir keinen Mangel an Lumpen – ich denke, wir werden bald mehr Verbandsmaterial benötigen.«
Mark lachte leise bei Theos schwarzem Humor.
»Ich verstehe nicht, worüber ihr lacht«, murmelte Verity mit angespannter Stimme. »Wir haben heute weitere zwanzig Patienten aufgenommen. Wie wollen wir sie ernähren?«
»Das werden wir schon irgendwie hinbekommen«, sagte Theo mit ruhiger Gelassenheit. Keiner der beiden machte sich die Mühe, mit gesenkter Stimme zu sprechen. Unterhaltungen wie diese waren viel zu normal geworden, als dass sie die Schuldner noch beunruhigen würden.
»Wie denn, Theo?«, wollte Verity wissen, während sie um den Altar herum auf ihn zuging. Die Anspannung nagte jetzt schon seit Wochen an der ehemals würdevollen Sekretärin. Nun schien es, als stehe sie kurz davor, die Fassung zu verlieren. »Die Wassermann-Lagerhäuser sind fast leer, und in den flussabwärts gelegenen Bezirken hat kaum jemand Essensvorräte angelegt. Sie wissen, was geschehen wird, wenn uns das Essen ausgeht.«
Mark und Theo wechselten Blicke. Ja, das wusste jeder. In der ersten Woche hatte es den Anschein gehabt, als würde Credes Traum von einer Stadt ohne Ausbeutung in Erfüllung gehen. Mark erinnerte sich daran, wie er gesehen hatte, dass Nick, Credes stämmiger Gefolgsmann, an den Lagerhäusern kostenlos Säcke mit Getreide und Obst verteilt hatte. Doch als die Vorräte zusammengeschrumpft waren, die Barrikade aber an Ort und Stelle geblieben war, hatten die Menschen in dem flussabwärts gelegenen Teil von Agora ihre bisherigen Gepflogenheiten wieder aufgenommen. Die meisten Leute benutzten nach wie vor ihre Siegelringe, um Verträge zu besiegeln und um mit dem wenigen zu handeln, das an Essbarem verblieben war. Doch ohne Eintreiber, welche die Verträge
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