Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Land hinter den Nebeln - Buch der Seelen 02

Das Land hinter den Nebeln - Buch der Seelen 02

Titel: Das Land hinter den Nebeln - Buch der Seelen 02 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Kendall
Vom Netzwerk:
ein…«
    »Wie eine Herberge auf einer Reise?«
    »Genau.«
    »Was für eine Herberge!« Er schnaubte und blickte sich angeekelt um. Doch daraus wurde im nächsten Augenblick Hoffnung. »Du meinst, dass es nach dem hier noch einen Ort gibt?«
    Ich wollte ihn nicht anlügen. »Ich weiß es nicht.«
    »Aber du glaubst es?«
    »Ich weiß es nicht.«
    »Aber es ist möglich?«
    »Tom, alles ist möglich.« Zu viel war möglich.
    »Dann könnte es an diesem nächsten Ort all die guten Dinge geben? Essen und Jagen und Mädchen?«
    Ich entschied mich für die sichere Antwort. »Ich weiß es nicht.«
    »Aber glaubst du…«
    »Ich weiß es nicht.«
    »Jetzt schrei doch nicht.« Er brütete einen Augenblick. »Ich denke, ich frage besser George.«
    »Das machst du«, fuhr ich ihn an, und schließlich wurde er still. Ich wollte Tom Jenkins nicht durch einen Wald von Gedanken führen, der für ihn noch fremder war als sogar das Land der Toten. Ich wollte hier sitzen und an Maggie denken, die Sehnsucht nach Maggie spüren, die wie eine langsam wachsende Pflanze schließlich aufblühte, nachdem sie jahrelang Stiel, Blätter und Knospen hervorgebracht hatte. Maggie, die immer vor mir gewesen war, die ich aber nie wirklich gesehen hatte. Maggie, meine Maggie…
    …zu der ich nicht nach Hause gehen konnte, wenn ich nicht meine wahnsinnige Schwester zu meinem ungeborenen Sohn führen wollte.
    Es musste sich umgehen lassen. Ich hatte schon so vieles umgangen. Ich hatte drei Lebende gerettet, hatte dabei die üblichen Grenzen eines Hisafs überwunden, indem ich körperlich den Pfad der Seelen betreten hatte, nicht nur mit meinem Geist. Sicher konnte ich einen Weg finden, um…
    Stephanie kreischte.
    Auf diesem geräuschlosen Hügel zerriss einem dieses Kreischen das Trommelfell. Es hallte von unsichtbaren Klippen wider, schien den Boden selbst zu durchdringen. Ehe ich wusste, dass ich mich bewegte, hatte ich schon die Arme um das kleine Mädchen geschlungen.
    »Euer Gnaden! Was ist los? Was…«
    Jee packte sie an der Hand. »Meine Dame, meine Dame, es war nur ein Traum.«
    Stephanie schüttelte den Kopf heftig und erbrach das Ziegenfleisch, das sich über mein Hemd ergoss.
    Dass sie sich übergeben hatte, schien sie zu beruhigen, und einen lächerlichen Augenblick lang hoffte ich, dass sie lediglich eine Magenverstimmung hätte. Aber dann würgte sie hervor: »Das… böse Mädchen…«
    Also doch ein Traum, einer von meiner Schwester. »Erzählt es mir, Euer Gnaden.«
    Sie versuchte zu gehorchen, schaffte es nicht, versuchte es noch einmal. Auf ihre eigene kindliche Weise hatte sie Mut. »Das böse… Mädchen… sie ist sehr zornig.«
    »Auf Euch?«, fragte Jee entrüstet.
    Stephanie schüttelte den Kopf. Ich wünschte, sie würde damit aufhören, damit sie nicht noch mehr von sich gab. Aber es kam nichts mehr. »Auf… Roger.«
    »Weshalb?«, fragte Jee. »Was hat das böse Mädchen gesagt? Ihr könnt es mir erzählen, meine Dame.« Er hatte ihre Hand nicht losgelassen, ihre schmalen, blassen Finger lagen in seiner plumpen Hand.
    »Sie ist zornig auf Roger, weil er lebt. Sie will ihn tot sehen.«
    Natürlich wollte sie das. Sie wollte uns alle tot sehen. Jee und Tom und mich. Wir waren die drei, die zwischen ihr und ihrer Herrschaft über Stephanie standen, wir drei, die die Prinzessin so weit in der Wirklichkeit verankerten, dass Stephanie nur ein passives Werkzeug war, keine aktive Verbündete. Wir hielten das kleine Mädchen bei geistiger Gesundheit, wie es Lady Margaret und Stephanies Nana zuvor getan hatten. Die beiden Frauen, Ersatz für die tote Mutter der Prinzessin, hatten Stephanie einen Anker gegeben. Nun waren sie fort, und wir drei Männer hatten die gleiche Funktion inne. Aber wie lange?
    Alysse hatte Stephanie als unwichtig erachtet. Es schien, dass Alysse sich irrte. Meine Schwester jagte sie, wenn auch nicht körperlich, so doch in den Träumen. Weshalb?
    Ich fragte vorsichtig: »Euer Gnaden, könnt Ihr mir genau berichten, was das böse Mädchen gesagt hat?«
    »Sie hat gesagt: ›Stirb, stirb, mein Kleines, stirb.‹ Und sie hat es zu Roger gesagt. Nur war Roger ein kleines Kind.« Unter den Tränen, dem Erbrochenen und der Angst wirkte Stephanies kleines Gesicht verwirrt. Und das war auch nicht verwunderlich. In ihrem Wahnsinn war meine Schwester mit unserer Mutter verschmolzen, und mit mir: das Kind, das im Land der Lebenden geboren war, und dasjenige, das vollständig im Land der Toten geboren worden war.

Weitere Kostenlose Bücher