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Das Land zwischen den Meeren

Das Land zwischen den Meeren

Titel: Das Land zwischen den Meeren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Paredes
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Lippen und ließ sich aufs Kissen zurücksinken.
    Und dann lag sie allein im schwachen Schein der Kerze. Wie lange würde sie aushalten müssen? Stunden? Oder sogar Tage? Es war ihr erstes Kind, und beim ersten Kind dauerte die Geburt immer am längsten, hatte sie sich erzählen lassen. Angst kroch in ihr hoch. Angst, etwas Schreckliches könne geschehen. Oder dass sie es nicht schaffen würde, dieses Kind zu gebären, das so machtvoll nach draußen ins Leben drängte. Was, wenn es krank oder verkrüppelt wäre? Oder schon bald nach der Geburt sterben würde? Sie schrie auf, wollte aufstehen, zur Kommode gehen und die heißen Hände in der Waschschüssel kühlen, doch die Beine versagten ihr den Dienst. Es schien, als wäre sie von der Körpermitte abwärts gelähmt. Sie fühlte glühende Messerspitzen im Rücken, konnte kaum noch atmen. Warum half ihr denn niemand? Die Hebamme sollte doch längst schon da sein.
    Plötzlich ebbte der Schmerz ab. Verflüchtigte sich zu einem Ziehen im Unterleib, kaum stärker als beim Beginn einer Monatsblutung. Wie spät mochte es sein? Von draußen drang nur das Rauschen des Baches an ihr Ohr, die Tiere des Dschungels schliefen. Es musste später Abend sein. Oder früher Morgen. Jemand fuhr ihr mit einem feuchten, kühlen Lappen über das Gesicht. Sie fühlte sanfte Hände, die ihr die schweißnassen Haarsträhnen aus der Stirn strichen. Eine andere Hand fuhr kreisend über ihren prallen Leib, wanderte weiter nach unten. Das ganze Laken fühlte sich um die Körpermitte mit einem Mal feucht an.
    »Aber Señora Ramirez, warum haben Sie nicht schon früher nach mir gerufen? Es kann nicht mehr lange dauern«, hörte sie die Stimme der Hebamme. Sie blickte in dunkle Augen, die sie aufmunternd ansahen.
    »Ich habe … ich bin …« In diesem Moment brauste der Orkan von Neuem auf. Dorotheas Finger krallten sich an Fidelinas Arm. Sie drückte die Fersen in die Matratze, ihr Körper bäumte sich auf. Die Knie zitterten und gaben nach. Der Rücken sank zurück auf das Bett, schien zu zerbersten.
    »Das sieht gut aus«, erklang die sanfte Stimme. »Versuchen Sie, ganz ruhig zu atmen.«
    Dorothea warf den Kopf zur linken, dann zur rechten Seite. Ihr Hals war wie zugeschnürt. Sie hieb die Zähne ins Kopfkissen, spuckte und röchelte.
    »Ruhig, ganz ruhig. Atmen Sie ein … und aus … und ein … und aus … Gut so, nicht nachlassen …«
    Fidelina hockte sich aufs Bett zwischen ihre Beine, strich mit beiden Händen kräftig vom Zwerchfell über die Bauchdecke bis hinunter zu den Oberschenkeln. »Weiteratmen, ganz gleichmäßig weiteratmen …«
    Der Schmerz flaute ab. Die Hebamme befeuchtete Dorotheas Lippen, gab ihr zu trinken, half ihr, Kraft zu schöpfen. Helles Sonnenlicht schimmerte durch die Vorhänge. Wie viele Stunden waren vergangen? Doch da nahte schon der nächste Zyklon, noch gewaltiger und noch anhaltender. Weitere Pausen folgten, aber sie wurden kürzer, ließen ihr kaum Zeit, den gekrümmten Körper auszustrecken und sich auf den nächsten Angriff vorzubereiten. Irgendwann hatte sie keine Kraft mehr und fürchtete, es nicht zu schaffen. Sie hörte nichts mehr, sah nichts mehr, war nur noch Schmerz. Ununterbrochener, grenzenloser Schmerz. Ihr Rückrat war zerborsten, ihr Leib gespalten. Sie schrie und wimmerte und wimmerte und schrie und sehnte sich danach, nicht mehr zu sein.
    Ein Schleier legte sich über sie, hüllte sie schützend ein und hob sie hoch. Alles war ausgelöscht, Erinnerung und Schmerz, Hoffnung und Sorge. Es gab weder Raum noch Zeit, weder Wärme noch Kälte. Ihr Körper hatte sich aufgelöst, war zu einer Nebelschwade geworden, die in kreiselnden Spiralen zum Himmel aufstieg und sich irgendwo, weit, weit oben, mit dem Universum vereinte.
    Irgendetwas rauschte. Brauste wie ein Wasserfall. Es war das Blut in ihren Ohren. Und langsam, ganz langsam kehrte ihr Bewusstsein aus den Tiefen des Alls in die Wirklichkeit zurück. Es kostete sie große Anstrengung, die Augen zu öffnen. Fidelinas lächelndes Gesicht schwebte über ihr. Dann legte ihr die Hebamme ein weiß umhülltes Bündel in die Arme.
    »Meinen Glückwunsch, Señora Ramirez. Das haben Sie großartig gemacht.«
    Langsam wandte Dorothea den Kopf zur Seite, sah ein winziges rosiges Gesicht mit runzeliger Haut, zusammengekniffenen Augen und Lippen. Das Mündchen verzog sich und öffnete sich leicht. Ein durchdringender Schrei drang an ihr Ohr. In einer Lautstärke, die sie dem kleinen Wesen nicht zugetraut

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