Das Land zwischen den Meeren
warten. Niemand würde es bemerken, wenn sie später als gewöhnlich nach Hause käme. So musste sie diesmal keine Entschuldigung zur Hand haben oder sich eine Ausrede einfallen lassen. Und jeglichen Gedanken an den taktlosen Apotheker, der demnächst eine Einladung von ihren Eltern erhalten sollte, hatte sie bereits erfolgreich aus dem Gedächtnis verbannt.
Dorothea eilte über die Breite Straße in den Berlich, bog hinter der Burgmauer nach rechts ab und passierte den imposanten, lang gestreckten Bau des Zeughauses. Eine Frau in schmuddeliger Kleidung und mit durchlöcherten Schuhen lehnte an einem Laternenpfahl und streckte ihr zitternd die knochige Rechte entgegen. In ihren müden, ängstlichen Augen, die von dünnen, fettigen Haarsträhnen halb verdeckt wurden, las Dorothea Hunger. Sie griff in ihre Jackentasche und zog eine Münze heraus, reichte sie der Frau, die vor Freude auf die Knie sank.
Es war nicht zu übersehen, dass in der Stadt mehr Bettler anzutreffen waren als noch vor wenigen Monaten. Hohlwangige, kraftlos wirkende Gestalten, an denen die meisten Passanten achtlos vorübergingen. Dorothea fragte sich jedes Mal, durch welche Schicksalsschläge diese Menschen zu solchen Hungerleidern geworden waren. Dabei wurde ihr stets bewusst, wie dankbar sie dem Schicksal sein musste, denn sie litt keine Not und hatte keine Entbehrungen zu beklagen. Deswegen hielt sie immer einige Geldstücke für jene bereit, die aus Verzweiflung ihr Elend öffentlich zur Schau stellten.
Sie beschleunigte die Schritte und gelangte in die Komödienstraße. Ihre Stimmung hellte sich auf, als sie inmitten einer Gruppe junger Männer Alexander entdeckte. Studenten, wie an ihren typischen roten Mützen leicht zu erkennen war. Sie warteten vor dem Café und diskutierten lebhaft. Als hätte Alexander ihre Nähe gespürt, wandte er sich unvermittelt um. Ein glückliches Lächeln trat auf sein Gesicht, bei dem Dorothea ein angenehmes innerliches Kribbeln verspürte. Er begrüßte sie bewusst höflich und förmlich, was sie mit einem dankbaren Kopfnicken quittierte. Seine Blicke aber sprachen eine andere Sprache. In ihnen erkannte Dorothea das Verlangen nach Küssen, Seufzern und innigen Umarmungen – und nach etwas verwirrend Unbekanntem, das sie aber nicht zu deuten vermochte.
Alexander setzte einen unschuldigen Gesichtsausdruck auf und deutete auf ein handgeschriebenes Schild, das an der Tür des Lokals hing. Wegen eines Trauerfalles bleibt unser Café heute geschlossen.
Dorothea konnte ihre Enttäuschung kaum verbergen. Seit Tagen hatte sie diesem Treffen in ihrem Lieblingscafé mit den gemütlichen roten Samtsesseln entgegengefiebert, sich auf einen Apfelkuchen und einen heißen, süßen Kakao gefreut. Auf Alexanders Nähe, seine tiefe, raue Stimme, die sie so gern vernahm, weil sie sich unauslöschlich in ihre Seele eingebrannt hatte. Auf seine dunklen Augen, in denen sich sowohl sein Schalk als auch die Liebe zu ihr widerspiegelte, und auf den vertrauten Duft seines Rasierwassers, das sie unter unzähligen anderen sofort herausgefunden hätte. Und natürlich auch aufs Pläneschmieden für die bevorstehende Hochzeit und ihr großes Abenteuer.
Doch im Gegensatz zu ihr schien Alexander in bester Stimmung zu sein, sein Lächeln bekam etwas Spitzbübisches. »Nun mach nicht so ein trauriges Gesicht, Liebste! Während ich hier voll Sehnsucht auf das Erscheinen deiner holden Gestalt gewartet habe, ist ein brillanter Plan in mir gereift. Ich meine, als meine zukünftige Frau hast du das Recht zu erfahren, wo ich in den vergangenen Monaten meine Junggesellenzeit verbracht habe. Wir gehen zu mir nach Hause, und ich koche für dich den besten Tee, den du je getrunken hast. Ich hoffe, du magst Butterkuchen. Ich habe nämlich gerade eben welchen in der Bäckerei nebenan gekauft. Der Teig ist an der Seite ein wenig verbrannt. Deswegen habe ich zwei Stücke zum Preis von einem bekommen.«
»Aber … aber das ist doch ganz unmöglich! Ich kann doch nicht einfach mit dir auf dein Zimmer kommen.« Dorothea blickte verängstigt zu dem Freund auf, wagte nicht, sich dieses unziemliche Ansinnen weiter auszumalen. Und trotzdem musste sie sich insgeheim eingestehen, dass sie sich schon oft gefragt hatte, wie er sich wohl in seinem Zuhause eingerichtet hatte. Sie war ganz sicher, es würde ihr gefallen. Weil ihr sein Bewohner gefiel.
Alexander antwortete mit leisem Spott, so als hätte er die moralischen Bedenken gar nicht herausgehört. »Du
Weitere Kostenlose Bücher