Das Land zwischen den Meeren
ernst zu nehmen und ihr Vertrauen zu gewinnen. Das ließen sie sich einiges kosten. Bald reichte sein Ruf über Köln hinaus. Immer mehr Hilfesuchende kamen von weit her, um sich von ihm behandeln zu lassen. Männer mit Knochenentzündungen, Kinder mit eitrigen Geschwüren, Frauen mit Narben, die immer wieder aufplatzten. Die Wundheilung wurde zu seinem Spezialgebiet, er korrespondierte mit Kollegen in ganz Deutschland und der Schweiz.
Doch mit den Jahren, ohne dass Sibylla einen Grund dafür hätte nennen können, verflüchtigte sich die Verliebtheit, verwandelte sich in Trägheit, Gleichgültigkeit, Langeweile. Aber sie stellte sich nie die Frage, ob es ein Fehler gewesen war, von zu Hause wegzugehen. Sie lebte im Wohlstand, wurde von den Leuten mit »Frau Doktor« angeredet und hatte Neider. Hätte sie mehr vom Leben erhoffen können? Erhoffen dürfen? Doch, es gab da etwas, einen sehnlichen Wunsch … Sie presste die Fingerspitzen gegen die Schläfen, rieb die zarte Haut über dem Knochen in kleinen Kreisen und verbot sich jeden weiteren melancholischen Gedanken. Sie wollte eine gut aufgelegte, charmante Gastgeberin sein. Denn es ging um nichts weniger als um Dorotheas Zukunft.
»Soll ich zuerst den roten oder den weißen Wein servieren?« Bei der Frage des Dienstmädchens warf Sibylla einen fassungslosen Blick zur Decke hinauf.
»Ich muss mich doch sehr wundern, wer Ihnen die hervorragenden Zeugnisse ausgestellt hat, Greta. Man könnte annehmen, es handle sich um Fälschungen und Sie seien eine Hochstaplerin. Weißwein wird zur Vorspeise serviert und Rotwein zum Hauptgang mit dunklem Fleisch. Und wenn Sie mir noch ein einziges Mal mit einer solch impertinenten Frage kommen, ist der nächste Erste für Sie der letzte.«
Sibylla wandte Greta den Rücken zu und beobachtete im Spiegel, wie das Dienstmädchen mit eingezogenen Schultern in die Küche trottete. Energisch zupfte sie an ihrer doppelreihigen Perlenkette, überprüfte den Sitz ihres makellos aufgesteckten dunkelbraunen Haars, in dem trotz ihrer fünfzig Jahre noch kein einziger Silberfaden zu entdecken war. Hoffentlich stellte das Dienstmädchen sich wenigstens beim Servieren geschickt an! Was sollte der Gast von den Fassbenders denken, wenn derartig unfähiges Personal bei Tisch bediente?
Unruhe befiel Sibylla, als der Zeiger der antiken Standuhr sich der Sechs näherte. Wo blieb ihr Mann? Hermann wollte doch nur schnell bei einem Patienten in der Nachbarschaft einen Verband wechseln. Er hätte längst zurück sein müssen. Und was war mit Dorothea?
Sibylla kam ein Verdacht. Womöglich wollte die Tochter sie mit ihrem Zuspätkommen absichtlich brüskieren. Dieses Mädchen war schon immer schwierig und eigensinnig gewesen. Nahm keinen wohlmeinenden Rat an, schloss sich stundenlang im Zimmer ein und ließ sich auch die völlig unangemessene Anstellung als Hauslehrerin nicht ausreden. Von ihrem Gatten erfuhr Sibylla leider keinerlei Unterstützung. Er war der Meinung, der Tochter könne es nicht schaden, wenn sie ein Lehrerinnenseminar besuche. Schließlich lerne sie in ihrem Beruf, Verantwortung für andere zu übernehmen. Und das sei allemal besser, als untätig zu Hause herumzusitzen, argumentierte er.
Als ob die Tochter eines Arztes arbeiten und wie niederes Dienstpersonal Geld verdienen musste … Besonders peinlich aber waren die teils bohrenden, teils süffisanten Fragen von Bekannten und Freunden, denen Sibylla Fassbender ausgesetzt war. Wie sollte sie etwas erklären, das sie selbst nicht verstand? Dass die Tochter lieber fremde Kinder unterrichtete, statt die Aussteuerwäsche mit ihrem Monogramm zu besticken und nach einem geeigneten Ehemann Ausschau zu halten?
Jawohl, Sibylla nickte ihrem Spiegelbild bekräftigend zu, nach zweiundzwanzig Jahren aufopferungsvoller Erziehung hatte sie weiß Gott ihre Pflicht erfüllt. Von nun an wollte sie wieder mehr Zeit für sich haben, Wohltätigkeitsbasare für die Kirchengemeinde veranstalten, für das Waisenhaus sammeln – und zu Hause ihre Stellung mit niemandem mehr teilen müssen. Dorothea sollte das Elternhaus möglichst bald verlassen und ihren eigenen Hausstand gründen. Bevor sie eine alte Jungfer wurde und ihr womöglich nur noch das Kloster blieb. Das hatte sie auch ihrem Mann zu verstehen gegeben …
Als sie das Geräusch der zuschlagenden Wohnungstür vernahm, horchte Sibylla erleichtert auf. Doch sofort verfinsterte sich ihre Miene. »Schön, dass du dich endlich blicken lässt, mein
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