Das Land zwischen den Meeren
Fräulein. Kannst du mir sagen, wie du in Straßenkleidung und mit zerzaustem Haar einen Gast empfangen willst?«
Dorothea stand mit geröteten Wangen vor ihr, wirkte ungewöhnlich heiter und unbeschwert, was Sibyllas Stimmung noch weiter verschlechterte.
»Entschuldige, Mutter, aber Maria hatte einige Fragen zu einer Hausaufgabe, deswegen musste ich länger bei Rodenkirchens bleiben. Wer kommt denn zu Besuch?«
»Ja, ist das denn die Möglichkeit? Wenn ich dich daran erinnern darf – Apotheker Lommertzheim ist heute zum Essen eingeladen. Deinetwegen! Sag mir nicht, du hättest es vergessen. Ich habe dich heute morgen ausdrücklich gebeten, pünktlich zu Hause zu sein, damit du genügend Zeit hast, dich umzuziehen und zurechtzumachen. Vater ist auch noch nicht zurück. Herrje, ich muss unseren hohen Gast doch nicht etwa allein begrüßen … Nun beeil dich, Dorothea! Wo ist eigentlich das Dienstmädchen geblieben? Greta, wo stecken Sie denn …?«
Dorothea schloss die Zimmertür hinter sich und sank aufs Bett. Ihr war tatsächlich vollkommen entfallen, dass an diesem Tag das Abendessen mit dem Apotheker stattfinden sollte. Aber womöglich hatte sie sich diesen Termin gar nicht merken wollen. Weil sie an weitaus Wichtigeres denken musste. An ihre Zukunft beispielsweise.
Dass sie Maria noch Fragen zu den Hausaufgaben hatte beantworten sollen, war nur ein vorgeschobener Grund gewesen. Sie war nämlich sofort nach der Arbeit zu einer Hebamme am Heumarkt geeilt, um sich über ihren Zustand Gewissheit zu verschaffen. Mit Bedacht hatte sie ein entfernteres Stadtviertel gewählt, weil niemand sie dort kannte. Aber dann hatte sie fast eine Stunde vergeblich gewartet, weil die Hebamme zu einer Geburt gerufen worden war. So war sie unverrichteter Dinge wieder gegangen.
Wäre Alexander doch endlich aus Berlin zurückgekehrt … Dann hätte sie nicht länger Versteck spielen müssen und hätte den Eltern ihre wahren Pläne offenbaren können. Und sie hätte auch nicht einen ganzen Abend mit einem fast doppelt so alten, langweiligen Apotheker verbringen und sich in gepflegter Konversation beweisen müssen.
»Vater ist gekommen. Beeil dich, Dorothea!«, drang die gereizte Stimme der Mutter zu ihr herüber.
Lustlos durchsuchte Dorothea ihren Schrank, entschied sich schließlich für ein Kleid aus weinrotem Taft mit bauschigen Ärmeln und einem Volant über dem Rocksaum. Es war vielleicht ein wenig zu elegant für ein Abendessen in privatem Kreis, aber zumindest würde die Mutter ihr nicht den Vorwurf machen, es sei zu farblos für ihre helle Haut. Dann löste sie ihr Haar, bürstete es mit kräftigen Strichen aus und flocht zwei Zöpfe, die sie schneckenförmig über den Ohren aufsteckte. Sie lächelte ihrem Spiegelbild zu, sinnierte, ob sie Alexander in diesem Kleid gefiele, und sehnte sich nach sanften, zärtlichen Händen, die zuerst über den glatten Stoff streichen und dann langsam die Knöpfe am Ausschnitt öffnen würden, während ihr Herz wild und laut pochte …
»Dorothea, es hat geläutet. Wie lange sollen wir noch auf dich warten?«
Jetzt war es der Vater, der zur Eile drängte. Sie warf ihrem Spiegelbild eine Kusshand zu und betrat die Diele, wo ihre Mutter mit hochroten Wangen ein Blumenbukett aus den Händen ihres Gastes entgegennahm.
»Aber das wäre doch nicht nötig gewesen, Herr Lommertzheim … Welch wunderschöne Blüten! Woher wussten Sie, dass Violett meine Lieblingsfarbe ist?«, fragte sie gurrend und warf ihrer Tochter einen mahnenden Blick zu, den kleinen Schwindel durch keine unbedachte Äußerung auffliegen zu lassen.
Der Apotheker war wiederum elegant und modisch gekleidet, trug einen eng geschnittenen dunkelgrauen Anzug und dazu eine gelb bestickte Weste. Er näherte sich Dorothea mit forschen Schritten und ergriff die Hand, die sie ihm entgegenstreckte. Dabei senkte er den Kopf und blickte sie über den Rand seiner Brille hinweg durchdringend an.
»Das Fräulein Dorothea sieht heute ganz bezaubernd aus. Obwohl … hätte ich einen Schönheitspreis zu vergeben und müsste mich zwischen ihr und der reizenden Frau Mama entscheiden … ich wüsste nicht, wem ich den Vorzug geben sollte.«
Dorothea schüttelte die feuchtwarme Hand und wischte sich unauffällig den Schweiß in den Rockfalten ihres Kleides ab.
»Und das habe ich für Sie mitgebracht. Eine Rose. Sogar ganz ohne Dornen.« Dabei lachte er dröhnend.
Dorothea nahm einen Stiel mit einer schlaff herabhängenden rosafarbenen Blüte
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