Das Land zwischen den Meeren
»unvergesslichen Abend«. Dorotheas Hand hielt er fest, als wolle er sie nie mehr loslassen. Die Lider hinter den Brillengläsern zuckten.
»Ich gebe zu, ich habe Chopin bisher für einen exaltierten, zweitklassigen Komponisten gehalten. Doch das Fräulein Dorothea hat mit seinem Spiel meine Seele erwärmt. Und ich weiß auch, dass wir beide uns in Zukunft häufiger begegnen werden.«
April 1848
In der Nacht träumte Dorothea. Von Alexander, der auf einem steigenden weißen Pferd saß und heldenhaft versuchte, nicht hinunterzustürzen. Dabei fielen aus den Satteltaschen Stapel von Manuskriptseiten, die der Wind in die Luft hob und davonzutragen drohte. Verzweifelt wollte Dorothea die Blätter erhaschen und in Sicherheit bringen, während der Apotheker auf einer Bank am Wegesrand saß und sich dümmlich grinsend den Mund mit süßen Krapfen vollstopfte.
Obwohl sie tief geschlafen hatte, fühlte sich Dorothea beim Aufwachen müde und erschöpft. Als läge eine bleierne Decke auf ihrem Körper. Sie richtete sich auf und schob sich ein Kissen in den Rücken, verspürte ungewohnte Übelkeit und Schwindel. Die Konturen des Zimmers verschwammen vor ihren Augen, als hätte sich ein zarter Schleier darübergelegt. Vermutlich hatte sie am Abend zuvor etwas gegessen, das ihr nicht bekommen war, versuchte sie sich zu beruhigen. Dabei hatte sie von allem nur ganz wenig gekostet …
Mit größter Anstrengung gelang es ihr, sich anzuziehen. Das Korsett schnürte sie nur locker, befürchtete sie doch, sonst nicht genügend Luft zu bekommen. Mit Schrecken dachte sie daran, dass sie den ganzen Tag über mit ihren Schützlingen auf den Beinen wäre. Sie hatte Maria und Moritz nämlich versprochen, am letzten Tag vor den geplanten Ferien den Botanischen Garten zu besuchen. Wie sie die Kinder kannte, würden diese jeden kleinsten Winkel erkunden wollen. Doch bestimmt tat ihr Bewegung in frischer Luft ebenfalls gut. Sie würde auf dem Nachhauseweg im Kräuterhaus am Neumarkt Lavendelsäckchen kaufen und diese unter dem Kopfkissen und in ihrem Kleiderschrank auslegen. Dann würde sie demnächst schon beim Aufwachen frischen Duft und gute Laune verspüren.
Wie jeden Alltagsmorgen hatte der Vater sich schon frühzeitig in seine Praxis im Erdgeschoss zurückgezogen, während die Mutter in ihrem dunkelblauen seidenen Morgenmantel am Tisch saß, um mit der Tochter das Frühstück einzunehm en. Eigentlich hätte Dorothea lieber für sich allein, und ohne sich unterhalten zu müssen, eine Scheibe Brot mit Honig gegessen und einen Kakao getrunken. Aber die Mutter bestand darauf, die Morgenmahlzeit grundsätzlich mit der Tochter gemeinsam einzunehmen und sich davon zu überzeugen, dass diese auch genug aß.
Sibylla Fassbender bestrich die eines Hälfte ihres Mandelhörnchens mit Butter, die andere mit Marmelade. Dann griff sie nach einer silbernen Kanne und füllte ihre Tasse auf. Für sie musste der Tag mit Kaffee beginnen, der so stark aufgebrüht war, dass ihr Mann ihn nur mit heißem Wasser verdünnt trinken konnte. Der intensiv duftende Kaffee bescherte Dorothea erneute Übelkeit. Sie steckte die Nase tiefer in die Kakaotasse, hoffte, sich durch den milden, süßlichen Geruch von ihrem Missempfinden ablenken zu können.
Sibylla biss in ihr Butterhörnchen und trank in langsamen, tiefen Schlucken. Dann vertiefte sie sich in die Lektüre der Tageszeitung, die das Dienstmädchen allmorgendlich bei einem Jungen auf der Straße kaufte und in gebügeltem Zustand auf dem Frühstückstisch deponierte.
»Immer diese Klagen über zu geringe Ernten und steigende Lebensmittelpreise … Ich mag davon nichts mehr lesen … Keiner will den Gürtel enger schnallen. Dabei kann sich doch jeder selbst anbauen, was er braucht. So wie ich die Kräuter im Wintergarten«, befand Sibylla und blickte Dorothea über den Rand der Zeitung hinweg an. »Übrigens, dein Vater und ich sind mit dem Verlauf des gestrigen Abends sehr zufrieden. Wenngleich ich meine, du hättest unserem Gast gegenüber etwas zugewandter sein dürfen. Du hast ihm gefallen, das war nicht zu übersehen.«
Ungerührt von den Worten der Mutter biss Dorothea in ihr Brot, fühlte den Honig am Gaumen kleben und würgte. Hastig trank sie einige Schlucke Kakao, fürchtete, ihr Magen könne sich umstülpen.
»Selbstverständlich habe ich zuvor Erkundigungen über unseren Gast eingezogen. Herr Lommertzheim stammt aus einer vermögenden Familie und genießt als Apotheker einen untadeligen Ruf.
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