Das Landmädchen und der Lord
zitterte am ganzen Körper. Offensichtlich weinte sie.
„O nein, meine liebe Freundin!“, rief Susannah. „Was dieser grausame Mensch gesagt hat, darf Sie nicht verletzen.“
Da ließ Amelia die Hände sinken, und die tiefe Trauer in ihren Augen brach beinahe Susannahs Herz. „Deshalb weine ich nicht. Vor all den Jahren verschwand Gerard, ohne mich noch einmal zu sehen. Hätte er mich darum gebeten, ich wäre mit ihm durchgebrannt, obwohl mein Bruder es verboten hatte. Aber er ging einfach fort. Ich weiß, er hatte Probleme mit seinem Landgut. Und vielleicht ist er jetzt nur wegen meines Vermögens an mir interessiert. Ob er mich wirklich liebt – keine Ahnung …“
„Doch, ganz sicher!“, behauptete Susannah. „Ich sah ja, wie er Sie anschaute – voller Sehnsucht. Ohne jeden Zweifel liebt er Sie.“
„Davon hat er nichts gesagt.“ Amelia nahm das Taschentuch, das Susannah ihr hinhielt, und wischte ihr Gesicht ab. „Wie albern! Nach all den Jahren dürfte ich nicht mehr so dumm sein.“
„Wenn man jemanden liebt, ist man nicht dumm. Schon gar nicht, wenn der betreffende Mann diese Gefühle erwidert.“
„Jedenfalls ist es töricht, in Tränen auszubrechen. So etwas passiert mir ganz selten. Es ist nur – wir tanzten, und ich dachte … Nicht so wichtig. Er hat seine Absichten nicht erklärt. Und das wird er auch nicht tun.“
„Wie wollen Sie das wissen?“ Eifrig drückte Susannah die Hand ihrer Freundin. „Geben Sie die Hoffnung nicht auf. Und hören Sie bloß nicht auf Sir Michael!“
„Natürlich nicht, denn er will mich nur verletzen und demütigen, wie schon so oft.“ Amelia küsste Susannahs Wange. „Wie glücklich muss ich mich schätzen, weil ich so gute Freundinnen habe! Wenn du heiratest, werde ich dich schmerzlich vermissen, meine Liebe. Dir konnte ich Dinge anvertrauen, die ich niemand anderem gestehen würde.“
„Wann ich heiraten werde – das steht keineswegs fest. Auch Harry hat sich noch nicht erklärt. Und ich weiß nicht, ob er es jemals tun wird. Was für bedauernswerte Frauen wir doch sind!“
„Ja, in der Tat! Die Männer sind so anstrengend! Vergessen wir sie, und gehen wir zur Hutmacherin. Neue Hüte werden unsere Laune sofort bessern.“ Entschlossen stand Amelia auf. „Jetzt mache ich mich ein bisschen frisch, und dann unternehmen wir einen Einkaufsbummel.“
5. KAPITEL
Während Harry mit seinem Sparringspartner focht, sah er Northaven eintreten. Er hatte nicht gewusst, dass der Mann Mitglied in diesem Sportclub war.
„Für heute genügt es, Monsieur Ferdinand“, sagte er und nahm ein Handtuch von einem Dienstboten entgegen. „Wann ich wieder Zeit finden werde, um mit Ihnen zu trainieren, weiß ich noch nicht. Jedenfalls habe ich diese Übung sehr genossen.“
„Mylord, wir freuen uns stets über Ihren Besuch. Nur ganz selten habe ich die Gelegenheit, gegen einen so versierten Fechter zu kämpfen. Nicht einmal der Earl of Ravenshead ist so tüchtig wie Sie.“
„Danke für das Kompliment.“ Harry nickte dem Sparringspartner zu und wandte sich ab. Vielleicht wäre er noch eine Stunde länger geblieben. Doch er wollte nicht von Northaven beobachtet werden. „Bis zum nächsten Mal.“
Ärgerlich ging er davon. Falls Northaven und seine Clique hier zugelassen werden, muss ich mir einen anderen Club suchen, überlegte er. Das würde er bedauern, denn Ferdinand war ein Experte. Aber er wollte nicht riskieren, gegen Northaven anzutreten. Womöglich würde er ihm den Degen in den Bauch stoßen.
„So früh verschwindest du schon?“ Northaven grinste spöttisch. „Und ich bin eigens hergekommen, um dir zuzuschauen, Pendleton. Wie man mir erzählt hat, kannst du ebenso gut fechten wie schießen.“
„Wahrscheinlich bin ich vielen Gentlemen ebenbürtig“, erwiderte Harry. „Aber wenn man aus sportlichen Gründen ficht, ist es etwas anderes, als wenn man auf dem Schlachtfeld seine Waffe schwingen muss.“
Nur sekundenlang hielt Northaven seinem Blick stand. „Solltest du glauben, ich würde verschulden, was Coleridge und dir in Spanien zugestoßen ist, irrst du dich. Warum sollte ich meine Landsleute verraten?“
„Keine Ahnung. Hätte ich einen Beweis gefunden, wärst du vor das Kriegsgericht zitiert worden.“
„Ich bin kein Verräter“, stieß Northaven hervor. In seinen Augen glitzerte helle Wut. „Vermutlich bin ich kein so ehrenwerter Gentleman wie du. Aber ich hätte die Franzosen niemals über deine Absichten informiert. Was das
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