Das Landmädchen und der Lord
frisch und ausgeruht sein. Bitte, sag ihm, ich wünsche ihm eine gute Nacht.“
Nachdem sie sich von den anderen verabschiedet hatte, stieg sie die Treppe zu ihrem Zimmer hinauf. Doch ihr Gewissen meldete sich, und so klopfte sie an Miss Hazledeanes Tür.
„Einen Moment!“ Es dauerte mehrere Sekunden, bis Jenny öffnete. Sie trug bereits einen Morgenmantel, und Susannah glaubte Angst in ihren Augen zu lesen. „Was wollen Sie?“
„Ich muss Ihnen etwas sagen“, erklärte Susannah. „Darf ich …?“
Widerstrebend ließ das Mädchen sie eintreten. „Ich habe Ihre Perlen nicht gestohlen.“
„Die hat niemand gestohlen, sie wurden nur … verlegt“, erwiderte Susannah, obwohl sie die junge Dame immer noch verdächtigte. „Wegen der Perlen bin ich nicht hier.“
„Warum sonst?“, fragte Jenny argwöhnisch und unbehaglich.
„Ich will Sie zur Vorsicht ermahnen“, begann Susannah und holte tief Atem. „Heute Vormittag sah ich Sie beim Bootshaus. Offenbar haben Sie sich heimlich mit jemandem getroffen, und ich glaube, es war der Marquess of Northaven. Dieser Mann ist nicht vertrauenswürdig. Harry hat mich vor ihm gewarnt und …“
„Wie können Sie es wagen, mir vorzuwerfen, ich hätte einen Liebhaber? Dazu haben Sie kein Recht!“
„Ich habe nicht behauptet, er sei Ihr Liebhaber. Tut mir leid, ich hätte Sie schon früher warnen sollen – nachdem ich Sie in Bath zusammen mit dem Marquess sah.“
An Jennys Wimpern glänzten Tränen. „Das hätte nichts genutzt. Seit Monaten sind wir ein Paar. Ich lernte Edmund schon lange vor dem Tod meines Bruders kennen.“ Mit einer zitternden Hand wischte sie ihre Wange ab. „Er versprach, mich zu heiraten. Dann vergeudete mein Bruder mein Erbe. Und Edmund ist verschuldet. Er liebt mich. Aber er braucht eine reiche Braut. Wie das ist, wenn man sich so hoffnungslos fühlt, verstehen Sie nicht, Miss Hampton. Ich besitze nichts. Und ich liebe ihn so sehr.“
„Das bedaure ich …“
„Ersparen Sie mir Ihr Mitleid!“, fauchte Jenny. „Sie mischen sich in Dinge ein, die Sie nichts angehen – so selbstgefällig, weil Sie in eine reiche Familie einheiraten werden!“ Sie wandte sich ab, und ihre Schulten bebten, während sie mit den Tränen kämpfte. „Erzählen Sie Lord Pendleton und Lady Elizabeth, ich sei eine Hure! Wie gern Sie mich los wären, weiß ich!“
„Da irren Sie sich“, beteuerte Susannah. „Ich hasse Sie nicht. Wenn Sie es erlauben, möchte ich Ihre Freundin sein. Und falls ich Ihnen helfen kann …“
Verzweifelt drehte Jenny sich um. „Bitte, verraten Sie niemandem, was Sie beobachtet haben. Ich habe Edmund ein Ultimatum gestellt. Entweder heiratet er mich, oder er sieht mich nie wieder.“
„Tut mir so leid …“
„Dann flehe ich Sie an – behalten Sie mein Geheimnis für sich!“
Susannah zögerte. Einerseits fühlte sie sich verpflichtet, Harry oder Lady Elizabeth einzuweihen. Andererseits – wie konnte sie ein Mädchen ins Unglück stürzen, das schon so viel erdulden musste? „Darüber will ich nachdenken. Heute Abend werde ich nichts verraten. Doch Sie sollten mir versprechen, den Marquess nicht mehr hier auf Pendleton zu treffen.“
„Ja, das schwöre ich. Bitte, bewahren Sie Stillschweigen!“
„Also gut. Vorerst werde ich nichts erzählen.“
„Danke.“ In Jennys Augen schimmerten neue Tränen.
Susannah verabschiedete sich. Voller Unbehagen ging sie in ihr Zimmer. War ihr Versprechen, Jennys Geheimnis zu hüten, ein Fehler gewesen?
Plötzlich fuhr Susannah aus dem Schlaf hoch. Was sie geweckt hatte, wusste sie nicht. Sie stieg aus dem Bett und eilte zum Fenster.
Durch einen Spalt zwischen den Vorhängen kroch das erste Morgenlicht. Susannah zog sie beiseite und sah jemanden durch den Park schleichen. Miss Hazledeane? Jedenfalls trug die Gestalt einen Koffer. Warum verließ Jenny im Morgengrauen mit einem Koffer das Haus? Es sei denn … Wollte sie mit ihrem Liebhaber durchbrennen?
Nun fand Susannah keine Ruhe mehr. Was sollte sie tun? Von wachsender Nervosität erfasst, wanderte sie in ihrem Zimmer umher. Irgendjemandem musste sie sich anvertrauen. Gewiss, sie hatte Jenny ihr Wort gegeben. Aber unter der Bedingung, dass die junge Dame sich nicht mehr auf Pendleton mit dem Marquess treffen würde. Zweifellos war es falsch gewesen, mit dem Mädchen zu reden, statt Harry über ihren Verdacht zu informieren. Schon nach ihrer Beobachtung im Teesalon in Bath hätte sie ihm von der Beziehung zwischen Jenny und
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