Das Lavendelzimmer: Roman (German Edition)
was ihn die ganzen vergangenen Wochen schier krank gemacht hatte, da war sich Jean sicher, dass er sich in dem Sirren und Höhnen des Windes verhört haben musste. Ja, so musste es sein, denn was er da hörte, war so schön und so grausam zugleich, dass es kaum wahr sein konnte.
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M ax tat sich mehr von dem duftigen Trüffelrührei auf, das ihnen Brigitte Bonnet zum Frühstück zubereitet hatte. Sie hatte neun frische Eier ganz nach provenzalischer Tradition mit einem der frühen Wintertrüffel drei Tage lang in ein Weckglas gelegt, bis die Eier von dem Duft durchdrungen waren. Dann erst hatte sie daraus behutsam Rührei aufgeschlagen und es mit wenigen, hauchzarten Trüffelscheiben garniert. Es war ein sinnlicher, wilder, fast fleischlich-erdiger Geschmack.
Welch opulente Henkersmahlzeit, schoss es Jean durch den Kopf.
Dieser Tag heute würde der schwierigste, längste Tag seines Lebens werden, so fürchtete er.
Er aß, als ob er betete. Er sprach nicht, er kostete alles still und konzentriert, damit er etwas hatte, worauf er sich in den kommenden Stunden stützen konnte.
Neben dem Rührei gab es saftige Melonen aus Cavaillon, weiße und orangefarbene. Würzigen Kaffee mit warm dampfender gesüßter Milch in großen, geblümten Tassen. Außerdem selbstgemachte Pflaumenkonfitüre mit Lavendel, ofenfrisches Baguette und buttrige Croissants, die Max wie immer mit dem röchelnden Mofa oben aus Bonnieux geholt hatte.
Jean sah vom Teller hoch. Dort oben war die alte romanische Kirche von Bonnieux. Daneben die Friedhofsmauer, gleißend hell. Steinerne Kreuze reckten sich zum Himmel.
Er erinnerte sich an das Versprechen, das er gebrochen hatte.
Ich wünsche mir, dass du vor mir stirbst.
Ihr Körper hatte ihn genommen, während sie stöhnte: »Versprich es! Versprich es mir!«
Er versprach es ihr.
Heute war er sich sicher: Manon wusste damals schon, dass er den Schwur nicht würde halten können.
Ich will nicht, dass du den Weg zu meinem Grab allein gehen musst.
Diesen letzten Weg musste er nun doch allein nehmen.
Nach dem Frühstück brachen sie zu dritt auf, pilgerten quer durch Zypressenwäldchen und Obstplantagen, Gemüsefelder und Weinberge.
Das Basset-Gut, ein langgestreckter, dreistöckiger, sanft gelber Bau, ein Herrensitz, flankiert von hohen dicken Kastanien, Rotbuchen und Eichen, blinkte nach einer halben Stunde zwischen den Rebenreihen hervor.
Perdu schaute unruhig in die blendende Üppigkeit. Der Wind spielte mit den Büschen und Bäumen.
Irgendetwas regte sich in ihm. Nicht Neid, nicht Eifersucht, nicht die Empörung von gestern Nacht. Sondern …
Es ist oft ganz anders, als man fürchtet.
Zuneigung. Ja, er empfand eine lose Zuneigung. Zu dem Ort, zu den Leuten, die ihren Wein Manon genannt und sich dem Wiederaufbau ihres Glücks gewidmet hatten.
Max war so klug, an diesem Morgen ganz still zu sein.
Jean griff nach Catherines Hand.
»Danke«, sagte er. Sie verstand, was er meinte.
Rechts vom Gut befand sich eine neue Halle. Für Anhänger, für große wie kleine Traktoren und für diese speziellen Weintrecker, die mit den hohen, schmalen Reifen.
Unter einem der Trecker, einem roten, schauten halb verborgen Beine in einem Arbeitsoverall hervor, und aus den Tiefen unter der Maschine hörten sie einfallsreiche Flüche und das typische Geklirr von Werkzeugen.
»Salut, Victoria!«, rief Max, Glück und Unglück nebeneinander in seiner Stimme.
»Ach, der Herr Serviettenbenutzer«, ließ sich ein junge Frauenstimme vernehmen.
Ein Sekunde später rollte das Treckermädchen unter dem Gerät hervor. Verlegen wischte sie sich über das ausdrucksvolle Gesicht und machte es damit nur noch schlimmer, verrieb Schmutz- und kleine Ölflecken.
Jean hatte sich gewappnet, aber dann war es doch schlimm.
Vor ihm stand eine zwanzig Jahre alte Manon. Ungeschminkt, die Haare länger, der Körper jungenhafter.
Und natürlich sah sie nicht aus wie Manon – wenn Perdu dieses kraftvolle, bezaubernde, selbstbewusste Mädchen anschaute, flimmerte das Bild. Neunmal sah er nicht Manon, und beim zehnten Mal schaute sie doch aus dem fremden jungen Gesicht heraus.
Victoria konzentrierte sich jetzt ganz auf Max, sah ihn von oben bis unten an, seine Arbeitsschuhe, seine verschossene Hose, sein verwaschenes Hemd. Es schien so etwas wie Anerkennung in ihrem Blick zu liegen. Sie nickte zufrieden.
»Sie nennen Max einen Serviettenbenutzer?«, fragte Catherine, gespielt harmlos.
»Ja«, sagte Vic, »er war genau der
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