Das Lavendelzimmer: Roman (German Edition)
konnte er nach Bonnieux und die Stufe beenden.
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A ls Catherine und Jean Sanary verließen, war das Fischerdorf zu einer heimlichen Heimat geworden. Klein genug, um ganz in ihre Herzen zu passen. Groß genug, um sie zu beschützen. Schön genug, um für ihr gegenseitiges Ertasten ein Sehnsuchtsort zu bleiben, für immer. Sanary, das hieß jetzt Glück, Frieden, Ruhe. Es hieß das Hineinfühlen in einen eigentlich fremden Menschen, den sie liebten, ohne den Grund benennen zu können. Wer bist du, wie wurdest du, wie fühlst du, und welche Kurven durchläuft deine Stimmung während einer Stunde, während des Tages und über Wochen? – das hatten sie ganz leicht herausgefunden, dort, in der herzensgroßen Heimat. Es waren die stillen Stunden, in denen Jean und Catherine sich nahekamen, daher hatten sie die lauten, wimmeligen Momente – die Kirmes, den Markt, das Theater, die Lesungen – meist gemieden.
Der September hatte ihr ruhiges, tiefes Liebenlernen in alle Farben zwischen Gelb und Malve getaucht, zwischen Gold und Violett. Die Bougainvilleen, das bewegte Meer, die farbigen, Stolz und Historie atmenden Häuser am Hafen, der goldene, knirschende Kies auf den Boule -Plätzen – das war die Grundierung, auf der sich ihre Zärtlichkeit, ihre Freundschaft, ihr tiefes Verstehen füreinander entfalteten.
Und sie taten einander alles langsam.
Dinge, die wichtig sind, sollten immer langsamer getan werden, dachte Jean oft, wenn sie begannen, einander zu verführen. Sie küssten sich mit Muße, zogen sich in Ruhe aus, ließen sich Zeit, sich auszustrecken, und noch mehr Zeit, ineinanderzufließen. Diese bedächtige, tiefe Konzentration aufeinander lockte eine besonders intensive Leidenschaft in ihnen hervor, im Körper, in der Seele, im Gefühl. Es war ein Überall-berührt-Sein.
Gleichsam mit jedem Mal, wenn er mit Catherine schlief, kam Jean Perdu dem Fluss des Lebens wieder näher. Zwanzig Jahre hatte er sich jenseits des Stroms aufgehalten, Farben und Liebkosungen, Düfte und Musik meidend, versteinert, einsam und trotzig in sich selbst.
Und jetzt … schwamm er wieder.
Jean lebte auf, weil er liebte. Er wusste nun hundert kleine Dinge über diese Frau. Etwa, dass Catherine morgens nach dem Aufstehen noch halb in Träumen gefangen war. Manchmal hatte sie Traum-Melancholien, sie fühlte sich noch einige Stunden lang irritiert oder beschämt oder ärgerlich oder kummervoll durch das, was sie in den Nachtschatten erlebt hatte. Das war ihr täglicher Kampf durch die Zwischenwelt. Jean fand heraus, dass er die Traumgeister vertreiben konnte, wenn er heißen Kaffee brühte und Catherine ans Meer lotste, auf dass sie ihn dort trank.
»Weil du mich liebst, lerne ich, mich auch zu lieben«, hatte sie ihm an einem dieser Morgen gesagt, als das Meer noch graublau im Halbschlaf war. »Ich habe immer genommen, was mir das Leben bietet … aber ich habe mir selbst nie etwas geboten. Ich war schlecht darin, mich um mich zu bemühen.« Während er sie zärtlich an sich zog, dachte Jean, dass es ihm genauso ging. Er konnte sich erst selbst lieben, weil Catherine ihn liebte.
Dann kam die Nacht, als sie ihn festhielt, weil seine zweite, große Wutwelle ihn überrollte. Diesmal war es Wut auf sich selbst.
Wie er auf sich schimpfte, grob und verzweifelt und mit dem Zorn desjenigen, der versteht, schmerzhaft klar, dass die Zeit verschwendet und unwiederbringlich ist, und die Zeit, bis das Leben vorbei ist, nur noch furchtbar kurz. Catherine unterbrach ihn nicht, beschwichtigte nicht, drehte sich nicht fort.
Und wie dann Ruhe in ihn einkehrte. Weil die wenige Zeit dennoch reichen würde. Weil ein paar Tage ein ganzes Leben enthalten konnten.
Und nun: Bonnieux. Der Ort seiner ältesten Vergangenheit. Einer Vergangenheit, die noch in Jean steckte, aber nicht mehr das Einzige war, woraus sein inneres Gefühlshaus bestand. Er hatte endlich eine Gegenwart, die er der Vergangenheit entgegensetzen konnte.
Deswegen fühlt es sich leichter an, zurückzukehren, dachte Jean, als Catherine und er am späten Nachmittag Anfang Oktober die enge, felsige Passstraße von Lourmarin – diese Stadt war eine Zecke, fand Perdu, die an Touristen saugte – nach Bonnieux nahmen. Auf der Fahrt überholten sie Radwanderer und hörten Jagdschüsse aus den klüftigen Bergen. Ab und an spendeten blattarme Bäume zerschlissenen Schatten, ansonsten sog die Sonne alle Farben auf. Die wuchtige Reglosigkeit des Luberon-Gebirges erschien Jean nach der
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