Das Lavendelzimmer: Roman (German Edition)
immer die Schuld bei sich gesucht hat, wenn ihr Mann so widerlich war oder wenn ihre Mutter sie tagelang ignorierte. Da musste ich doch etwas übersehen haben … etwas unterlassen haben … ich war nicht leise genug gewesen. Nicht glücklich genug. Ich hatte ihn und sie nicht genug geliebt, sonst wären sie doch nicht so …«
Catherine weinte.
Sie weinte erst leise, doch dann, als er die Decke um sie schlang und ihren Körper fester in seiner Umarmung hielt, die Hand sanft an ihrem Hinterkopf, schluchzte sie lauter. Herzzerreißend.
Er spürte, wie sie in seinen Armen durch alle Täler schritt, durch die sie bereits tausendmal in Gedanken geflogen war. Voller Angst zu fallen, die Beherrschung zu verlieren, zu ertrinken im Schmerz – aber das tat sie nun.
Sie fiel. Catherine berührte, besiegt von Kummer, Trauer und Demütigung, den Grund.
»Ich hatte keine Freunde mehr … er sagte, sie wollten nur in seinem Glanz baden. Seinem. Er konnte sich nicht vorstellen, dass sie mich interessant fanden. Er sagte, ich brauche dich, dabei brauchte er mich gar nicht, er wollte mich ja nicht einmal … Er wollte die Kunst nur für sich allein haben … ich habe meine aufgegeben für seine Liebe, aber das war ihm noch zu wenig. Hätte ich sterben sollen, um ihm zu beweisen, dass er alles für mich war? Und er mehr war, als ich je sein werde?«
Und dann, als Letztes, flüsterte Catherine heiser: »Zwanzig Jahre, Jean. Zwanzig Jahre, in denen ich nicht gelebt habe … Ich habe auf mein eigenes Leben gespuckt und spucken lassen.«
Irgendwann atmete sie ruhiger.
Dann schlief sie ein.
Ihr Körper wurde in Perdus Umarmung weich.
Sie also auch. Zwanzig Jahre. Es gibt offenbar ein paar Varianten mehr, sich das Leben zu verderben.
Monsieur Perdu wusste, dass nun er an der Reihe war.
Nun würde er den Grund berühren müssen.
Im Wohnzimmer, auf seinem alten, weißen Küchentisch, lag Manons Brief. Auf eine traurige Art war er getröstet, nicht der einzige Verschwender seiner Zeit zu sein.
Kurz fragte er sich, was gewesen wäre, wenn Catherine nicht Le P., sondern ihn kennengelernt hätte.
Länger fragte er sich, ob er bereit war für den Brief.
Natürlich nicht.
Er brach das Siegel, roch an dem Papier, roch lange. Schloss die Augen und senkte für einen Moment den Kopf.
Dann setzte sich Monsieur Perdu auf den Bistrostuhl und begann, Manons einundzwanzig Jahre alten Brief an ihn zu lesen.
12
Bonnieux, 30. August 1992
Tausendmal habe ich Dir schon geschrieben, Jean, und jedes Mal musste ich mit ein und demselben Wort beginnen, weil es das ist, was am wahrsten von allen ist: »Geliebter«.
Geliebter Jean, mein so geliebter, ferner Jean.
Ich habe eine Dummheit begangen. Ich habe Dir nicht gesagt, warum ich Dich verlassen habe. Und ich bedauere es jetzt – beides: gegangen zu sein und mein Schweigen darüber, warum.
Bitte, lies weiter, verbrenn mich nicht – ich habe Dich nicht verlassen, weil ich nicht bei Dir bleiben wollte.
Das wollte ich. Viel mehr als das, was jetzt stattdessen mit mir geschieht.
Jean, ich sterbe, sehr bald, sie vermuten, zu Weihnachten.
Als ich ging, habe ich mir so gewünscht, dass Du mich hasst.
Ich sehe Dich den Kopf schütteln, mon amour. Aber ich wollte das tun, was die Liebe für richtig hält. Und sagt diese nicht: Tue, was für den anderen gut ist? Ich dachte, es sei gut, wenn Du mich im Zorn vergisst. Wenn Du nicht trauerst, Dich nicht sorgst, sondern nichts vom Tod weißt. Schnitt, Wut, aus – und weiter.
Aber ich habe mich getäuscht. Es geht so nicht, ich muss Dir doch noch sagen, was mir, was dir, was uns passiert ist. Es ist schön und schrecklich zugleich, es ist zu groß für einen kleinen Brief. Wenn Du hier bist, sprechen wir über alles.
Das ist es also, worum ich Dich bitte, Jean: Komm zu mir.
Ich habe solche Angst zu sterben.
Aber ich werde damit warten, bis Du da bist.
Ich liebe Dich.
Manon
PS: Wenn Du nicht kommen willst, weil Deine Gefühle dafür nicht ausreichen, werde ich es akzeptieren. Du schuldest mir nichts, auch kein Mitleid.
PPS: Die Ärzte lassen mich nicht mehr reisen. Luc erwartet Dich.
Monsieur Perdu saß im Dunkeln und fühlte sich wie verprügelt.
In seiner Brust krampfte sich alles zusammen.
Das kann doch nicht sein?
Immer, wenn er zwinkerte, sah er sich selbst. Aber den Mann von vor einundzwanzig Jahren. Wie er exakt an dem Tisch saß, wie versteinert, und sich weigerte, den Brief zu öffnen.
Unmöglich.
Sie konnte doch nicht …?
Sie hatte ihn
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