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Das Lavendelzimmer: Roman (German Edition)

Das Lavendelzimmer: Roman (German Edition)

Titel: Das Lavendelzimmer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina George
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auf die Hand wie bei den letzten ungefähr tausend Schleusen? Außerdem habe ich blutige Finger von dem elenden Kurbeldrehen und Schützöffnen. Werden diese zarten Hände jemals wieder einen Buchstaben liebkosen können?« Max zeigte vorwurfsvoll seine geröteten Hände, an denen winzige Blasen schwärten.
    Sie näherten sich nach ungezählten Kuhweiden, von denen aus sich die Rinder im Uferwasser kühlten, und nach stolzen Schlossanlagen ehemaliger Maitressen der Schleuse La Grange, kurz vor Sancerre.
    Das Weindorf thronte auf einem weithin sichtbaren Hügel und markierte die südlichen Ausläufer des zwanzig Kilometer langen, wilden Naturschutzgebiets des Loire-Tals.
    Trauerweiden hängten ihre Äste wie spielende Finger in das Wasser. Das Bücherschiff wurde umarmt von grünen, bewegten Mauern, die immer näher zu rücken schienen.
    In der Tat waren sie bei jeder bisherigen Schleuse des Tages von einem zutiefst aufgeregten Schleusenhund angebellt worden. Und jeder dieser Kläffer hatte zielsicher an jenen Poller gepinkelt, über den Max die zwei Taue geworfen hatte, um das Bücherschiff während des Auf- und Abschwellens des Wassers in der Kammer stabil zu halten.
    Nun warf Max die Leinen mit spitzen Fingern aufs Deck.
    »He, Capitano! Cuneo schleust, keine Problem.«
    Der kurzbeinige Italiener legte die Zutaten fürs Abendessen beiseite, kletterte in seiner geblümten Kochschürze die Leiter hoch, zog sich oben ein paar bunte Topfhandschuhe an und schwenkte das Tau der Festmacher wie eine Schlange hin und her. Der Hund wich vor der Boa Seilensis zurück und trollte sich missmutig.
    Die Eisenstange zum Öffnen der Zuflussklappen drehte Cuneo dann mit nur einer Hand; unter seinem kurzärmeligen, gestreiften Hemd wölbten sich kugelrunde Muskeln. Dazu sang er mit einer Gondeltenor-Stimme: »Que sera, sera …« und zwinkerte der entzückten Schleusenfrau zu, als deren Mann nicht hinsah. Ihrem Gemahl reichte er im Vorbeifahren eine Dose Bier. Dafür kassierte Salvatore ein Lächeln und die Auskunft, in Sancerre sei heute Abend Tanz, im übernächsten Hafen habe der Hafenmeister keinen Diesel mehr auf Vorrat, und auf die wichtigste Frage Cuneos ein Nein, der Frachter Mondnacht sei schon lange nicht mehr durchgekommen. Zuletzt, als Mitterrand noch lebte. Ungefähr.
    Perdu beobachtete Cuneo bei dieser Nachricht.
    Eine Woche lang hatte dieser immer ein und dasselbe gehört: »Nein, nein, nein.«
    Sie hatten die Schleusenwärter gefragt, die Hafenmeister, die Skipper, ja, sogar die Kunden, die die Literarische Apotheke vom Ufer aus heranwinkten.
    Der Italiener bedankte sich, in seinem Gesicht blieb es ruhig. Ruhig wie ein Stein. Er musste eine unerschütterliche Quelle der Hoffnung in sich tragen. Oder suchte auch er nur noch aus Gewohnheit?
    Die Gewohnheit ist eine gefährliche, eitle Göttin. Sie lässt nichts zu, was ihre Regentschaft unterbricht. Sie tötet eine Sehnsucht nach der anderen. Die Sehnsucht nach Reisen, nach einer anderen Arbeit, nach einer neuen Liebe. Sie verhindert zu leben, wie man will. Weil wir aus Gewohnheit nicht mehr nachdenken, ob wir noch wollen, was wir tun.
    Cuneo gesellte sich zu Perdu auf den Steuerstand.
    »Aye, Capitano. Ich habe meine Liebe verloren. Und der Junge?«, fragte er. »Was hat er verloren?«
    Die beiden Männer sahen zu Max, der, auf die Reling gestützt, aufs Wasser sah und sehr, sehr weit entfernt erschien.
    Max redete weniger, spielte kein Klavier mehr.
    Ich versuche, ein guter Freund zu sein, hatte er zu Perdu gesagt. Was bedeutete dieses »versuchen« nur?
    »Ihm fehlt seine Muse, Signor Salvatore. Max schloss einen Pakt mit ihr und gab ein normales Leben auf. Aber seine Muse ist fort. Nun hat er kein Leben mehr, weder ein normales noch das künstlerische. Deswegen sucht er sie, hier draußen.«
    » Sì, capisco. Vielleicht hat er seine Muse nicht genug geliebt? Dann muss er ihr noch mal einen Antrag machen.«
    Konnten sich Schriftsteller neu mit ihren Musen verheiraten? Sollten Max, Cuneo und er auf einer Wildblumenwiese nackt um ein Feuer aus Weinreben tanzen?
    »Was für Typen sind Musen denn so? Sind sie wie Katzikatzi?«, fragte Cuneo. »Die mögen keine Bettelei um Liebe. Oder sind sie wie Hunde? Kann er das Musenmädchen eifersüchtig machen, wenn er mit anderem Mädchen Liebe macht?«
    Bevor Jean Perdu antworten konnte, dass Musen wie Pferde seien, hörten sie Max etwas brüllen.
    »Ein Reh! Da, im Wasser!«
    Tatsächlich: Da vor ihnen war es, mitten im Kanal.

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