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Das Lavendelzimmer: Roman (German Edition)

Das Lavendelzimmer: Roman (German Edition)

Titel: Das Lavendelzimmer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina George
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Ein völlig erschöpftes junges Rehweibchen schwamm hilflos umher. Es geriet in Panik, als es die Penische hinter sich aufragen sah.
    Immer wieder versuchte es, an der Böschung Fuß zu fassen. Doch die glatten, senkrechten Wände des künstlichen Kanals machten es unmöglich, aus dem tödlichen Wasser zu entkommen.
    Max hing schon über der Reling und versuchte, das erschöpfte Tier mit dem Schwimmring einzufangen.
    »Massimo, lass das, du fällst noch über –«
    »Aber wir müssen ihr doch helfen! Sie kommt da nicht allein raus, sie ertrinkt!«
    Jetzt knüpfte Max aus einem Tau eine Schlinge, die er immer wieder zu dem Reh warf. Aber es wand sich noch panischer davon, ging unter, tauchte wieder auf.
    Die tiefe Angst in den Rehaugen sprang Perdu an.
    »Bleib ruhig«, bat er das Tier stumm, »bleib ruhig, vertrau uns … vertrau uns.« Er fuhr Lulus Motor herunter, warf den Rückwärtsgang hinein, um die Penische zu stoppen, aber das Schiff würde noch Dutzende Meter weitergleiten.
    Schon war das Reh auf halber Höhe neben ihnen.
    Es strampelte noch verzweifelter, je öfter die Leine mit der Rettungsschlaufe neben ihm aufs Wasser klatschte. Die braunen Augen waren aufgerissen vor Panik und Todesangst, als es seinen schmalen, jungen Kopf zu ihnen umwandte.
    Und dann schrie es.
    Es war halb heiseres Wimmern, halb bittendes Fiepen.
    Cuneo machte Anstalten, sich in den künstlichen Fluss zu stürzen, und zog bereits in Windeseile Schuhe und Hemd aus.
    Das Reh schrie und schrie.
    Perdu überlegte fieberhaft. Sollten sie anlegen? Vielleicht bekamen sie es von der Landseite aus zu packen und konnten es aus dem Wasser ziehen?
    Er lenkte das Schiff ans Ufer, hörte, wie die Außenwände am Kanal entlangschrammten.
    Und immer noch schrie das Reh, mit diesem verzweifelten, heiseren Fiepen. Die Bewegungen wurden müder, immer kraftloser versuchten seine Vorderläufe, Halt an dem Ufer zu finden.
    Doch nirgends fand es ihn.
    Cuneo stand in Unterwäsche an der Reling. Ihm musste klargeworden sein, dass er dem Rehmädchen nicht helfen konnte, solange er selbst ebenfalls nicht ans Ufer klettern konnte. Und die Außenwände der Lulu waren zu hoch, um ein sich wehrendes Tier nach oben zu reichen oder die Notleiter mit ihm zu erklimmen.
    Als sie endlich angelegt hatten, sprangen Max und Jean ans Ufer und rannten durch das Unterholz zurück zu dem Reh.
    Es hatte sich inzwischen von ihrer Uferseite aus abgestoßen und versuchte, auf die andere Seite des Kanals zu gelangen.
    »Aber warum lässt sie sich denn nicht helfen?«, flüsterte Max. Ihm liefen Tränen über die Wangen.
    »Komm her!«, brüllte er heiser. »Du blödes Miststück, komm schon her!«
    Sie konnten jetzt nur noch zusehen.
    Das Reh fiepte und wimmerte, während es versuchte, die gegenüberliegende Uferböschung zu erklimmen.
    Und irgendwann hörte es auch damit auf. Es rutschte zurück.
    Schweigend sahen die Männer zu, wie das Reh nur noch mühsam den Kopf über Wasser hielt. Immer wieder sah es zu ihnen hin und versuchte, von ihnen wegzupaddeln.
    Der angstvolle Blick voller Misstrauen und Abwehr traf Perdu bis ins Mark.
    Nur noch einmal schrie das Reh, sehr lang und sehr verzweifelt.
    Dann hörte das Schreien auf.
    Es versank.
    »Oh, Gott, bitte«, flüsterte Max.
    Als es auftauchte, trieb es auf der Seite, der Kopf unter Wasser, und seine Vorderläufe zuckten.
    Die Sonne schien, die Mücken tanzten, und irgendwo im Dickicht keckerte ein Vogel. Leblos drehte sich der Körper des Rehs um sich selbst.
    Max rannen Tränen über das Gesicht. Er ließ sich ins Wasser gleiten und schwamm zu dem Kadaver.
    Schweigend sahen Jean und Salvatore zu, wie Max den schlaffen Körper des Rehs hinter sich herzog, bis er an Perdus Uferseite war. Mit einer ungeahnten Kraft hob Max den schmalen, nassen Körper in die Höhe, bis Jean ihn packen und hochziehen konnte. Fast schaffte er es nicht.
    Das Reh roch nach Brackwasser, nach Waldboden und nach dem Duft einer sehr fremden, alten Welt jenseits der Städte. Das nasse Fell war borstig. Als Perdu das Reh vorsichtig auf den sonnenwarmen Grund neben sich bettete, das Köpfchen auf seinen Knien, hoffte er, dass gleich ein Wunder geschah und sich das Reh schüttelte, mit wackeligen Läufen aufstand und ins Unterholz davonhuschte.
    Jean strich über die Brust des jungen Tieres. Er strich über den Rücken, über den Kopf, als ob allein die Berührung den Bann lösen konnte. Er fühlte den Rest Wärme, der noch in dem schlanken Körper gehortet

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