Das Lavendelzimmer: Roman (German Edition)
verknüpfte den Ring mit dem Seil und stemmte seine kurzen, knubbeligen Beine fest an die Planken. Dann schleuderte er den Ring mit Kraft in Richtung des Bündels. Er reichte Max, der blass zusah, das andere Ende des Seils.
»Wenn ich sie hab, musst du ziehen. Zieh wie ein Pferd, Junge!«
Er zog seine geputzten Schuhe aus und sprang mit ausgestreckten Armen, Kopf voran, in den Fluss.
Über ihnen spalteten die Blitze den Himmel.
Max und Perdu sahen, wie Cuneo mit kraftvollen Zügen durch das hungrige Wasser kraulte.
»O scheiße, scheiße, scheiße!« Max zog die Ärmel seines Anoraks weit über die Hände und griff wieder nach dem Seil.
Perdu ließ die Ankerkette rasselnd fallen.
Das Schiff hob und senkte sich wie in einer Waschtrommel.
Cuneo hatte die Frau erreicht und umschlang sie.
Gemeinsam zogen Perdu und Max an dem Tau; dann hievten sie beide an Bord. Cuneos Schnurrbart troff, und das dreieckige Gesicht der Frau wurde von klatschnassen, rotbraunen Haaren eingerahmt wie von geringeltem Tang.
Perdu hastete an den Steuerstand.
Als er nach dem Funkgerät griff, um den Notarzt anzufordern, legte sich Cuneos schwere, nasse Hand auf seine Schultern.
»Lass! Die Frau will das nicht. Es wird auch so gehen. Ich mach das schon, sie muss abgetrocknet und gewärmt werden.« Perdu vertraute seinen Worten und fragte nicht nach.
Im Nebel sah er die Marina von Cuisery auftauchen. Er lenkte die Lulu in den Hafen. Gepeitscht von Regen und Wellen, vertäuten Max und er das Schiff an einem Ponton.
»Wir müssen runter!«, rief Max über das Pfeifen und Heulen des Windes. »Das wird noch ein verdammtes Geschaukel.«
»Ich werde die Bücher und Katzen doch nicht allein lassen!«, rief Perdu zurück. Das Wasser lief ihm in die Ohren, den Nacken, in die Ärmel. »Und außerdem bin ich der Capitano, der verlässt sein Schiff nicht.«
»Aye! Dann gehe ich aber auch nicht.«
Das Schiff ächzte, als ob es sie beide für leicht irre hielt.
Cuneo hatte ein Lager in Perdus Kajüte gebaut und die Schiffbrüchige aus ihrer Kleidung gepellt. Die Frau mit dem Herzgesicht lag nun nackt und mit einem wohligen Ausdruck in den Augen unter einem gewaltigen Deckenberg. Cuneo hatte sich in seinen weißen Trainingsanzug gehüllt, in dem er ein bisschen albern aussah, aber wirklich nur ein bisschen.
Er kniete vor ihr und flößte ihr provenzalische Pistou ein; die Knoblauch-Basilikum-Mandel-Paste, die zu dem Gericht gehörte, löffelte er direkt in die Tasse und goss sie mit der klaren, kräftigen Gemüsesuppe auf.
Sie lächelte ihn zwischen den Schlucken an.
»Salvo also. Salvatore Cuneo. Aus Neapel«, stellte sie fest.
»Sì.«
»Ich bin Samantha.«
»Und wunderschön«, sagte Salvo.
»Ist es … ist es nicht schlimm, da draußen?«, fragte sie. Ihre Augen waren wirklich sehr groß und sehr dunkelblau.
»Ach, was«, sagte Max rasch. »Äh, was eigentlich?«
»Nur ein kleiner Schauer. Erhöhte Luftfeuchtigkeit«, beruhigte Cuneo sie.
»Ich könnte uns doch etwas vorlesen«, schlug Perdu vor.
»Wir könnten auch etwas singen«, ergänzte Max. »Im Kanon.«
»Oder kochen«, schlug Cuneo vor. »Mögen Sie Daube, den Schmorbraten mit Kräutern der Provence?«
Sie nickte. »Aber mit Rinderbacke, ja?«
»Und was ist jetzt schlimm?«, fragte Max.
»Das Leben. Das Wasser. Kringelfische in Dosen.«
Die drei Männer starrten sie verständnislos an.
Perdu dachte, dass diese Samantha zwar auf den ersten Blick verrückte Dinge sagte und tat, aber weder verrückt aussah noch war. Sie war nur … eigen.
»Dreimal nein, würde ich meinen«, antwortete er. »Aber was sind Kringelfische?«
»Sind Sie, hm, extra ins Wasser gefallen?«, fragte Max.
»Extra? Ja, klar«, antwortete Samantha. »Kein Mensch geht an so einem Tag spazieren und rutscht versehentlich rückwärts aus. Das wäre ja wirklich zu blöde, oder? Nein, so was will schon geplant sein.«
»Dann wollten Sie, also … sich …?«
»Den Erdmöbelkurs besuchen? Mich selbst über den Styx schicken? Sterben? Nein. Um Himmels willen, wieso denn?«
Das Herzgesicht schaute ehrlich verblüfft von einem zum anderen.
»Ach so. Sah das so aus? Nein, nein. Ich lebe gern, auch wenn es bisweilen furchtbar anstrengend ist und vom Gesamtuniversellen her gleichgültig. Nein. Ich wollte wissen, wie das ist, bei diesem Wetter in den Fluss zu springen. Er sah so interessant aus. Wildgewordene Soße. Ich wollte wissen, ob ich in der Soße Angst habe und ob mir die Angst dann irgendetwas
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