Das Lavendelzimmer: Roman (German Edition)
fünftausend Jahren, niedergeschrieben von sieben überirdisch hellsichtigen Weisen. Diese sieben Rishis hätten, so der Mythos, jene aus Äther bestehenden Bücher gefunden, in denen die gesamte Vergangenheit und Zukunft der Welt verzeichnet waren. Das Drehbuch allen Lebens. Verfasst von Wesen, die jenseits von so etwas Beschränktem wie Zeit und Raum lebten.
Die Rishis hätten die Lebensschicksale – einige Millionen – sowie einschneidende Weltereignisse aus diesen überirdischen Büchern übersetzen und auf Marmor, Stein oder eben Palmblätter übertragen können.
Salvo Cuneos Augen glänzten. »Stell dir vor, Massimo. Dein Leben steht in dieser Palmblattbibliothek, auf einem einzigen schmalen Stechpalmenblatt. Alles über deine Geburt, den Tod und das Dazwischen. Wen du liebst, wen du heiratest, dein Beruf, einfach alles, sogar deine Vorleben.«
»Pfff … king of the road«, kam es aus Samanthas Mund.
»Dein ganzes Leben samt Vorleben auf einem Bierdeckel. Wie glaubhaft«, murmelte Perdu.
Jean Perdu hatte zeit seines Buchhändlerlebens Sammler abgewimmelt, die sich diese sogenannten Akasha-Chroniken aneignen wollten, koste es, was es wolle.
»Echt?«, sagte Max. »Hey, Leute, vielleicht war ich Balzac.«
»Vielleicht warst du auch eine kleine Cannelloni.«
»Und sein Ende, das erfährt man ebenso. Nicht auf den Tag genau, aber den Monat und das Jahr. Und auf welche Weise, das wird ebenso nicht verschwiegen«, wusste Cuneo.
»Na, vielen Dank«, murmelte Max zweifelnd. »Welchen Sinn soll es machen, seinen eigenen Todestag zu kennen? Ich würde den Rest meines Lebens wahnsinnig werden vor Angst. Nein danke, ein bisschen Illusion, dass für mich die Unendlichkeit rausspringt, die hätt’ ich gern.«
Perdu räusperte sich. »Zurück zu Cuisery. Die meisten der tausendsechshunderteinundvierzig Einwohner haben etwas mit Druckerzeugnissen zu tun, der Rest mit der Versorgung der Besucher. Es heißt, die Bruder- und Schwesternschaft der Bouquinisten habe ein dichtes Netz um den Globus gewebt und es existiere außerhalb der normalen Kommunikationswege. Ja, nicht einmal das Internet benutzen sie – die Bücherweisen hüten ihr Wissen auf jene Art, dass es mit dem Tod eines Mitglieds versterben würde.«
»Seufz«, seufzte Samantha.
»Deswegen zieht sich jeder mindestens einen Nachfolger heran, um von Mund zu Ohr alles beizubringen, was sie über das Leben mit Büchern wissen. Sie kennen mystische Geschichten über die Entstehung berühmter Werke, über Geheimausgaben, über Manuskriptoriginale, über die Bibel der Frauen … «
»Cool«, sagte Max.
»… oder über Bücher, in denen zwischen den Zeilen eine ganz andere Geschichte steht«, erzählte Perdu im leisen, verschwörerischen Ton weiter. »Es heißt, dass in Cuisery eine Frau lebt, die von den wirklichen Enden vieler berühmter Werke weiß, weil sie die Vor- und Vorvorversionen der Manuskripte sammelt. Sie kennt das erste Ende von Romeo und Julia, das, in dem die beiden überleben, heiraten und Kinder bekommen.«
»Igitt«, murmelte Max. »Romeo und Julia überleben und werden Eltern? Da ist doch die ganze Dramaturgie hinüber.«
»Finde ich gut«, sagte Cuneo. »Die kleine Julia hat mir immer furchtbar leidgetan.«
»Und einer von denen weiß, wer Sanary ist?«, fragte Max.
Das hoffte Jean Perdu. Er hatte dem Präsidenten der Büchergilde Cuisery, Samy le Trequesser, aus Digoin eine Karte geschrieben und sein Kommen angekündigt.
Gegen zwei Uhr früh schliefen sie erschöpft ein, gewiegt von den Wellen, die sich im nachlassenden Gewitter sanfter bewegten.
Als sie erwachten, in einen Tag hinein, der mit seinem harmlosen, frisch gewaschenen Sonnenschein so tat, als sei die letzte Nacht nie passiert, da war der Sturm fort – und die Frau ebenfalls.
Cuneo schaute verdutzt auf seine leere Hand. Dann hielt er sie vorwurfsvoll den anderen entgegen.
»Geht das schon wieder los? Warum finde ich immer nur Frauen auf den Flüssen?«, klagte er. »Ich hab mich ja kaum von der letzten erholt.«
»Stimmt. Du hattest nur fünfzehn Jahre Zeit«, grinste Max.
»Ach, Frauen«, klagte Cuneo. »Kann sie nicht wenigstens ihre Nummer mit Lippenstift an den Spiegel schreiben!«
»Ich hol uns Croissants«, beschloss Max.
»Ich komm mit, amico, und guck mal nach der Schlafsängerin«, sagte Cuneo.
»Ach, ihr kennt euch doch hier gar nicht aus. Ich gehe«, wandte Perdu ein.
Zum Schluss gingen sie alle drei.
Als sie von dem kleinen Hafen über den
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