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Das Lavendelzimmer: Roman (German Edition)

Das Lavendelzimmer: Roman (German Edition)

Titel: Das Lavendelzimmer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina George
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Erwartungen und Enttäuschungen zerfressenen Kleinkrämer.
    Sie hatten Bücher verkauft, Kindern vorgelesen, das Klavier gegen den Austausch von Romanen stimmen lassen. Sie hatten gesungen und gelacht. Von einem öffentlichen Telefon aus hatte Jean seine Eltern angerufen. Und einmal auch No. 27.
    Niemand hatte abgenommen, obgleich er es sechsundzwanzigmal klingeln ließ.
    Seinen Vater hatte er gefragt, wie es gewesen war, auf einmal vom Liebhaber zum Vater zu werden.
    Joaquin Perdu hatte unüblich lange geschwiegen. Dann hatte Jean ihn schniefen hören. »Ach, Jeanno … ein Kind zu bekommen, das ist so, als ob du deine eigene Kindheit ablegst, für immer. Es ist, als ob du dann erst begreifst, was Mannsein wirklich bedeutet. Du hast auch Angst, dass jetzt all deine Schwächen ans Licht kommen, weil Vatersein mehr von dir will, als du kannst … Ich hatte immer das Bedürfnis, mir deine Liebe zu verdienen. Weil ich dich so liebhatte. So lieb.«
    Sie hatten dann beide geschnieft.
    »Jeanno, wieso fragst du eigentlich? Wolltest du damit andeuten, dass du …«
    »Nein.«
    Leider. Einen Max und ein Töchterchen, Ritterfräulein Trotz, das wäre schön gewesen. Hätte, wäre, würde.
    Jean war es, als ob die Tränen, die er am Allier geweint hatte, Platz in ihm geschaffen hatten. In dieser ersten Lücke konnte er Düfte unterbringen. Berührungen. Die Liebe seines Vaters. Und Catherine.
    Er konnte die Zuneigung für Max und Cuneo genauso einsortieren wie die Schönheit des Landes; er hatte unter der Trauer einen Ort in sich entdeckt, wo Rührung und Freude zusammenwohnen konnten, Zärtlichkeit und das Begreifen, für manche Menschen jemand zu sein, den man liebhaben konnte.
    Nun hatten sie, über den Canal du Centre die Saône erreicht und fuhren mitten hinein in einen Sturm.
    Der Himmel über dem Burgund senkte sich, grollend, schwarz und immer wieder durch Blitze zersplittert, über das Land zwischen Dijon und Lyon hinab.
    In Lulus Bauch erhellten Tschaikowsky Klavierkonzerte die trübe Finsternis, gleichsam wie eine umherschaukelnde Funzel den Bauch von Jonas’ Wal. Tapfer klemmte sich Max mit den Füßen an das Klaviergestänge und gab die Balladen, Walzer, Scherzi auf dem Piano zum Besten, während das Schiff auf den Schaumwellen der Saône schlingerte.
    So hatte Perdu Tschaikowsky nie gehört: zu den Trompeten und Bratschen des Sturms, untermalt vom Stöhnen und Pumpen des Motors und dem Knirschen des Gebälks, wenn der Wind sich in die empfindsame Schiffstaille drückte und versuchte, es an Land zu schieben. Aus den Regalen regnete es Bücher, Lindgren lag unter einem festgeschraubten Sofa, Kafka guckte den rutschenden Einbänden mit angelegten Ohren aus einem Riss im Sesselbezug zu.
    Jean Perdu sah eine vernebelte Waschküche vor sich, als er die Seille, den Seitenfluss der Saône, hinauf steuerte.
    Er roch die Luft, sie war elektrisierend, er roch das aufgeschäumte grüne Wasser, er fühlte, wie sich das Steuerrad unter seinen schwieligen Händen wand – und es gefiel ihm so sehr, am Leben zu sein. Jetzt am Leben zu sein, jetzt!
    Sogar den Sturm genoss er.
    Windstärke fünf Beaufort.
    Aus dem Augenwinkel, während des Hebens und Senkens zwischen zwei Wellenschüben, sah er die Frau.
    Sie trug ein durchsichtiges Regencape und einen großen Schirm, wie ihn Londoner Börsenmakler bei sich haben. Sie schaute über das niedrige, sich unter Böen biegende Schilf hinweg. Sie hob die Hand zum Gruß, und dann – er konnte es kaum glauben, aber doch, es war wahr – öffnete sie den Reißverschluss ihres Capes, warf es von sich, drehte sich um und breitete die Arme aus, den Schirm aufgespannt in der rechten Hand.
    Dann ließ sie sich mit ausgebreiteten Armen wie die brasilianische Jesus-Statue auf dem Zuckerhut rückwärts in den wütenden Fluss fallen.
    »Was zum …?«, flüsterte Perdu. »Salvo! Frau über Bord! Landseite!«, brüllte er wenig später, und der Italiener kam aus der Kombüse geschossen.
    » Che? Was hast du getrunken?«, rief er, doch Perdu zeigte auf den Leib, der sich in dem aufgepeitschten Wasser auf und ab bewegte. Und auf den Schirm.
    Der Neapolitaner fixierte den aufgeschäumten Fluss. Der Schirm ging unter.
    Cuneos Kieferknochen mahlten.
    Er griff nach den Tauen und dem Rettungsring.
    »Näher«, verlangte er. »Massimo!«, rief er. »Lass das piano! Ich brauch dich hier, sofort … subito! «
    Cuneo stellte sich an die Reling, während Perdu das Bücherschiff näher ans Ufer quälte,

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