Das Lavendelzimmer: Roman (German Edition)
sich die Armen und die Toten teilen.
Ich fürchte, dass ich dann schon mit den Clochards um die Krümel streiten werde.
Luc hat mich beschworen, die Therapie zu machen.
Mal abgesehen davon, dass die Chancen schlecht wie eine Pferdewette stehen, würde so oder so etwas von mir sterben, müsste so oder so ein Grabstein bestellt werden, die Messe gelesen, die Taschentücher gebügelt.
Ob ich den Grabstein spüren werde?
Papa versteht mich. Als ich ihm den Grund sagte, warum ich die Chemo nicht will, ging er in die Scheune und weinte lange. Ich hatte fast die Gewissheit, dass er sich einen Arm abhackt.
Maman: versteinert. Sie sieht aus wie ein versteinerter Olivenbaum, ihr Kinn ist knorrig und hart, ihre Augen wirken wie Borke. Sie fragt sich, was sie falsch gemacht hat, warum sie ihre erste Todesahnung nicht ändern konnte in einen schlechten Traum, in Mutterliebe, die sich mehr sorgt, als Sorgen da sind.
»Ich wusste es, in diesem verfluchten Paris wartet der Tod.« Aber sie kann sich nicht entschließen, mir die Schuld zu geben. Sie gibt sie letztlich sich selbst. Diese Strenge hilft ihr, weiterzumachen und mir mein letztes Zimmer so einzurichten, wie ich es von ihr erbat.
Du liegst jetzt auf dem Rücken wie ein Tänzer in der Pirouette. Ein Bein lang, das andere angezogen. Ein Arm über dem Kopf, das andere fast in die Seite gestemmt.
Du hast mich immer angesehen, als sei ich einzigartig. Fünf Jahre lang, nicht ein einziges Mal hast du mich genervt oder gleichgültig angeschaut. Wie hast du das bloß geschafft?
Castor starrt mich an. Vermutlich sind wir Zweibeiner äußerst merkwürdig für Katzen.
Die Ewigkeit, die auf mich wartet, kommt mir erdrückend vor.
Manchmal, aber das ist ein wirklich böser Gedanke, manchmal hatte ich mir gewünscht, dass es jemanden gibt, den ich liebe und der vor mir geht. Damit ich weiß, dass ich es auch schaffen kann.
Manchmal dachte ich, dass du vor mir gehen musst, damit ich es auch kann. In der Gewissheit, dass du auf mich wartest …
Adieu, Jean Perdu.
Ich beneide dich um all die Jahre, die du noch hast.
Ich gehe in mein letztes Zimmer und von dort aus in den Garten. Ja, so wird es sein. Ich werde durch eine freundliche hohe Terrassentür schreiten und mitten hinein in den Sonnenuntergang. Und dann, dann werde ich zu Licht, dann kann ich überall sein.
Es wäre meine Natur, ich wäre für immer da, jeden Abend.
34
S ie verbrachten einen rauschenden gemeinsamen Abend. Salvo tischte Topf um Topf Muscheln auf, Max spielte Klavier, und sie tanzten abwechselnd mit Samy auf dem Deck.
Später genossen die vier den Blick auf Avignon und die durch ein Tanzlied berühmte halbe Saint-Bénézet-Brücke. Der Juli schenkte sich ihnen mit ganzer Kraft. Es waren nach Sonnenuntergang immer noch samtige achtundzwanzig Grad.
Jean hob kurz vor Mitternacht sein Glas.
»Ich danke euch«, sprach er. »Für Freundschaft. Für Wahrheit. Und für dieses unglaublich gute Essen.«
Sie erhoben alle ihre Gläser. Als sie klirrend anstießen, war es, als ob eine Glocke das Ende ihrer gemeinsamen Reise anzeigte.
»Jetzt bin ich übrigens glücklich«, sagte Samy trotzdem mit glühenden Wangen, und eine halbe Stunde später: »Ich bin es immer noch«, und nach weiteren zwei Stunden … Nun, da sagte sie es vermutlich noch einmal auf unzählige andere Weisen als mit Worten, aber das hörte weder Max noch Jean. Die beiden hatten beschlossen, das Liebespaar nicht zu kompromittieren, und ließen Samy und Salvo in ihrer ersten Nacht von hoffentlich Abertausenden allein auf der Lulu zurück, um durch das nächstgelegene Stadttor in die Altstadt von Avignon zu schlendern.
Auf den engen Straßen drängten sich die Flaneure. Die Hitze des Sommers verlagerte im Süden naturgemäß alle Aktivitäten spät in die Nacht hinein. Auf dem Platz vor dem prächtigen Rathaus kauften Max und Jean Eiscreme und sahen den Straßenkünstlern zu, die mit Feuerstöcken jonglierten, akrobatische Tänze aufführten und das Publikum in den Cafés und Bistros mit Slapstick zum Lachen brachten. Jean fand diese Stadt nicht sympathisch, sondern eher wie eine verlogene Hure, die versuchte, aus ihrem Ruf noch etwas zu machen.
Max fing das schnell schmelzende Eis mit der Zunge ein. Mit halbvollem Mund sagte er betont beiläufig: »Ich werde Kinderbücher schreiben. Ich hab da ein paar Ideen.«
Jean sah ihn aus dem Augenwinkel an.
Das, dachte er, das also ist Max’ Moment, in dem er beginnt, der zu werden, der er mal sein wird.
»Darf
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