Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Lavendelzimmer: Roman (German Edition)

Das Lavendelzimmer: Roman (German Edition)

Titel: Das Lavendelzimmer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina George
Vom Netzwerk:
ich sie hören?«, bat er nach einer Weile des zärtlichen Staunens, dass er diesen Augenblick miterleben durfte.
    »Puh, ich dachte schon, du fragst nicht mehr.«
    Max zog seine Kladde aus der Gesäßtasche und las: »Der alte Zaubermeister fragte sich, wann endlich ein mutiges Mädchen kam und ihn aus dem Garten ausgrub, in dem er seit einhundert Jahren unter den Erdbeeren vergessen worden war …«
    Max sah Perdu mit verklärtem, entspanntem Blick an. »Oder eine Geschichte über den kleinen heiligen Bimbam.«
    »Bimbam?«
    »Na ja, der Heilige, der für alles herhalten muss, für das sich die anderen zu schade sind. Ich stelle mir vor, dass sogar Bimbam eine Kindheit hatte, bevor es hieß: Ach, du heiliger Bimbam, du willst bitte was werden? Schriftsteller?« Max grinste. »Dann noch eine über Claire, die mit ihrer Katze Minou den Körper tauscht. Dann noch …«
    Der künftige Held aller Kinderzimmer, dachte Jean, während er Max’ wundervollen Einfällen lauschte.
    »… und wie der kleine Bruno im Himmel ist und sich bei den Zuständigen beschwert, welcher Familie er zugeteilt wurde …«
    Jean genoss die Blüten aus Zärtlichkeit, die sich in seiner Brust entfalteten, während er Max zuhörte. Er hatte diesen jungen Mann so lieb! Seine Schrullen, seinen Blick, sein Gelächter.
    »… und wenn die Schatten in die Kindheit ihrer Besitzer zurückkehren, um dort einiges in Ordnung zu bringen …«
    Wunderbar, dachte Jean. Ich schicke meinen Schatten zurück in die Zeit und lass ihn mein Leben in Ordnung bringen. Wie verführerisch. Wie leider unmöglich.

    Sie kehrten erst tief in der Nacht zurück, eine Stunde, bevor die Dämmerung herankroch.
    Während sich Max in seine Ecke trollte, noch einige Notizen machte und dann einschlief, streifte Jean Perdu langsam durch sein sanft im Strom wiegendes Bücherschiff. Die Katzen gingen dicht an seiner Seite und beobachteten den großen Mann aufmerksam. Sie spürten, dass ein Abschied bevorstand.
    Immer wieder rutschten Jeans Finger ins Leere, als er an den Buchreihen entlangfuhr und über die Rücken streichelte. Er wusste genau, wo welches Buch gestanden hatte, bevor sie es verkauft hatten. So, wie man die Häuser und Felder seiner Straße, seiner Heimat kennt. Und sie sogar dann noch sieht, wenn sie längst einer Umgehungsstraße oder einem Einkaufszentrum gewichen sind.
    Immer hatte er die Anwesenheit der Bücher als Schutz empfunden. Er hatte die ganze Welt in seinem Schiff gefunden, alle Gefühle, jeden Ort und alle Zeiten. Er hatte nie reisen müssen, und ihm hatten Gespräche mit Büchern genügt … mitunter hatte er sie höher geschätzt als Menschen.
    Sie waren weniger bedrohlich.
    Er setzte sich in den Sessel auf dem kleinen Podest und schaute durch das große Fenster auf das Wasser hinaus.
    Die beiden Katzen sprangen auf seinen Schoß.
    »Jetzt kannst du nicht mehr aufstehen«, sagten ihre Körper, die schwerer und wärmer wurden. »Jetzt musst du bleiben.«
    Das hier war also sein Leben gewesen. Fünfundzwanzig mal fünf Meter groß. Er hatte begonnen, es aufzubauen, als er so alt war wie Max. Das Schiff, die Sammlung seiner »Seelenapotheke«, seinen Ruf, diese Ankerkette. Tag für Tag hatte er sie geschmiedet, sie gehärtet, Glied für Glied. Und sich selbst darin eingewickelt.
    Aber etwas daran stimmte nicht mehr. Wäre sein Leben ein Fotoalbum gewesen, hätten sich die zufälligen Schnappschüsse alle geähnelt. Sie würden ihn immer auf diesem Schiff zeigen, mit einem Buch in der Hand, und nur das Haar wäre mit der Zeit silberner und lichter geworden. Am Ende stünde ein Bild, auf dem er einen suchenden Blick hatte, im zerknitterten Greisengesicht, flehentlich.
    Nein, so wollte er nicht enden – mit der Frage, ob es das schon gewesen war.
    Es gab nur einen Ausweg. Er musste drastisch sein, die Ankerketten zu zerschlagen.
    Er musste das Schiff verlassen. Ganz und gar verlassen.
    Die Vorstellung verursachte ihm Übelkeit … doch dann, als er durchatmete und sich ein Leben ohne Lulu vorstellte, auch Erleichterung.
    Augenblicklich rührte sich sein schlechtes Gewissen. Die Literarische Apotheke verstoßen wie eine lästige Geliebte?
    »Ist sie doch gar nicht«, murmelte Perdu.
    Unter seinen streichelnden Händen schnurrten die Katzen.
    »Was mache ich nur mit euch dreien?«, fragte er sie unglücklich.
    Irgendwo sang Samy im Schlaf.
    Und in seinem Kopf formte sich ein Bild.
    Vielleicht musste er die Apotheke gar nicht im Stich lassen oder mühsam nach

Weitere Kostenlose Bücher