Das Lavendelzimmer: Roman (German Edition)
wo die Feuerwehr am vierzehnten Juli ihre Pyrotechniker in den Himmel böllern ließ. Du siehst die gegenüberliegenden geschwungenen Hügel und Berge, dahinter kommen Toulon und Hyères. Lauter weiße Häuschen über die felsnasigen Hügel gestreut. Nur wenn du dich auf die Zehen stellst, siehst du den viereckigen Wachturm des alten Saint-Nazaire. Um den herum ist das HÔtel de la Tour gebaut, ein glatter Klotz, in dem einige der deutschen Schriftsteller ihr Exil in den bösen Kriegsjahren überlebt haben.
Die Manns, Feuchtwangers, Brecht. Die Bondys, der Toller. Der eine Zweig und der andere auch, die Wolff, die Seghers und die Massary. Wunderbarer Name für eine Frau: Fritzi.
(Ich halte Vorträge, verzeih mir, Catherine! Papier ist geduldig. Ein Autor ist es nie.)
Als ich Ende Juli neben dem alten Hafen am Quai Wilson endlich nicht mehr wie ein unangenehmer Anfänger Pétanque spielte, kam ein kleiner runder Neapolitaner um die Ecke, einen Panamahut auf dem Kopf, der Schnurrbart zitternd wie der einer zufriedenen Katze, und an einer seiner Pranken ein Weib, dem man das freundliche Herz schon am Gesicht ansieht: Cuneo und Samy! Die beiden blieben eine Woche, das Schiff stand so lange unter der Aufsicht der Stadt Cuisery, da passte es hin. Lulu, die Büchermanische, unter ihresgleichen.
Woher, warum, weshalb, großes Hallo.
»Wieso, bitte sehr, machst du nie dein Handy an, Papieresel?«, brüllte Samy. Tja, sie wussten sich trotzdem zu helfen. Über Max und dann Madame Rosalette, natürlich. Großzügig wie immer, mit ihren Spionagetätigkeiten. Hatte wohl ganz genau die Stempel der Briefe studiert, die ich an dich schreibe, und mich seit Wochen in Sanary verortet. Was würde die Welt der Freunde und der Liebenden nur ohne die Concierges dieser Welt machen? Wer weiß, vielleicht haben wir alle unsere Aufgaben im Großen Buch La Vie. Die einen lieben besonders gut, die anderen passen besonders gut auf Liebende auf.
Ich weiß natürlich, warum ich das Telefon vergessen habe.
Weil ich zu lange in einer Welt aus Papier wohnte. Ich lerne »das hier« ja gerade erst kennen.
Cuneo half mir vier Tage beim Mauern und versuchte, mir beizubringen, Kochen wie Liebemachen zu betrachten. Außerordentliche Lehrstunden und Lektionen, die auf dem Markt begannen, wo Tomaten, Bohnen, Melonen, Obst, Knoblauch, drei Sorten Radieschen, Himbeeren, Kartoffeln, Zwiebeln in Kisten die Verkäuferinnen bis über ihre Köpfe umringen. In der Eisbude hinter dem Kinderkarussell aßen wir salziges Karamelleis. Zart salzig, angebrannt süß, sahnig und kalt. Ich habe niemals ein perfekteres Eis gegessen, und ich esse es inzwischen jeden Tag (und manchmal auch nachts).
Cuneo lehrte mich, mit meinen Händen zu sehen. Er zeigte mir, wie ich erkenne, wie was behandelt werden will. Er lehrte mich zu riechen und wie mir der Geruch verrät, was zusammenpasst und was ich daraus kochen kann. Er stellte eine Tasse Kaffeemehl in meinen Kühlschrank, das sammelt alle Gerüche ein, die dort nicht hingehören. Wir schmorten, kochten, brieten, grillten Fisch.
Wenn du mich noch einmal fragst, ob ich für dich koche, werde ich dich verführen mit all dem, was ich gelernt habe.
Samy hat mir eine letzte ihrer Weisheiten geschenkt. Meine kleine, große Freundin. Sie hat ausnahmsweise nicht gebrüllt – sie brüllt sonst am liebsten –, sondern hat mich umarmt, als ich dasaß und auf das Meer starrte und Farben zählte. Ganz leise hat sie mir zugeflüstert: »Weißt du, dass es zwischen Ende und Neuanfang eine Zwischenwelt gibt? Es ist die verwundete Zeit, Jean Perdu. Sie ist ein Moor, und darin sammeln sich Träume und Sorgen und vergessene Absichten. Deine Schritte werden schwerer in dieser Zeit. Unterschätze diesen Übergang nicht, Jeanno, zwischen Abschied und Neubeginn. Lass dir deine Zeit. Manchmal sind solche Schwellen breiter, als man in einem Schritt gehen kann.«
Über das, was Samy die verwundete Zeit, die Zwischenwelt genannt hat, denke ich seither häufig nach. Die Schwelle, die es gilt, zwischen einem Abschied und einem Neuanfang hinter sich zu bringen. Ich frage mich, ob meine Schwelle jetzt erst beginnt … oder ob sie schon zwanzig Jahre dauert.
Kennst du diese verwundete Zeit auch? Ist Liebeskummer wie Todestrauer? Sind das Fragen, die ich dir stellen darf?
Sanary ist vermutlich einer der wenigen Orte in unserem Land, wo die Einheimischen lächeln, wenn ich ihnen einen deutschen Autor empfehle. Sie sind auf eine gewisse Art stolz,
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