Das Lavendelzimmer: Roman (German Edition)
dass sie der ersten Garde der deutschen Schriftstellerinnen und Schriftsteller während der Diktatur eine Fluchtheimat gaben. Aber es sind zu wenige Häuser von den Exilanten erhalten, sechs oder sieben, das Mann-Haus wurde nachgebaut. In den Buchhandlungen führt man ihre Werke selten, dabei waren es Dutzende, die hierherflüchteten. Ich baue die Abteilung aus, MM lässt mir freie Hand.
Sie hat mich auch an die Herrschaften der Stadt empfohlen, stell dir vor. Der Bürgermeister, ein großer, silber-kurzhaariger »Dressman«, liebte es, am vierzehnten Juli die Parade der Feuerwehrautos anzuführen. Sie zeigten dabei alles, was sie haben, Catherine. Laster, Tanks, Jeeps, sogar ein Rad und Boote auf Anhängern waren dabei. Grandios, und erst der Nachwuchs, der hinterhermarschierte: stolz und gelassen. Die Bibliothek des Bürgermeisters dagegen ist ein miserabler Medizinschrank. Sonore Namen wie Camus, Baudelaire, Balzac, alles in Leder, damit sich die Besucher wohl denken: »Oh! Montesquieu! Und den Proust, na, wie langweilig.«
Ich schlage dem Herrn Bürgermeister vor, das zu lesen, was er will, anstatt das, was angeblich Eindruck macht, und seine Bibliothek weder nach den Farben der Schutzumschläge noch nach Alphabet oder nach Genre zu gliedern. Sondern in Bündeln. Alles über Italien in eine Ecke: Kochbücher, Leon-Krimis, Romane, Bildbände, Sachbücher über da Vinci, religiöse Traktate von Assisi, was auch immer. Alles über das Meer in eine andere, von Hemingway bis Haifischsorten, Fischgedichte und Fischgerichte.
Er hält mich für schlauer, als ich in Wahrheit bin.
In der Buchhandlung von MM gibt es einen Platz, den ich sehr liebe. Direkt bei den Lexika, ein ruhiger Ort, nur ab und an schauen kleine Mädchen vorbei und schlagen heimlich was nach, weil ihre Eltern sie abgewimmelt haben: »Dafür bist du noch zu klein, das erkläre ich dir, wenn du groß bist.« Ich persönlich glaube, es gibt keine Frage, die zu groß ist. Man muss nur seine Antworten anpassen.
Ich sitze in dieser Ecke auf der Trittleiter, mache ein intelligentes Gesicht und atme ein und aus. Sonst nichts.
Dort im Versteck sehe ich, gespiegelt in der offenen Glastür, den Himmel und in der Ferne ein Stückchen Meer. Ich sehe alles schöner, weicher, obgleich es hier fast unmöglich ist, es noch schöner zu finden. Inmitten der weißen Kastenstädte an der Küste, zwischen Marseille und Toulon, ist Sanary das letzte Fleckchen, in dem man auch lebt, wenn keine Urlauber da sind. Natürlich richtet sich alles nach ihnen, von Juni bis August, und du bekommst abends keinen Platz zum Essen, wenn du nicht reserviert hast. Aber wenn die Gäste fort sind, hinterlassen sie nicht zugige, leere Häuser und vereinsamte Supermarktparkplätze. Hier wird immer gelebt. Die Gassen sind eng, die Häuser farbig und klein. Die Bewohner halten zusammen, und die Fischer verkaufen im Morgengrauen von ihren Booten aus riesige Fische. Es ist ein Städtchen, das im Luberon liegen könnte, dörflich, eigen, stolz. Aber der Luberon ist ja schon das einundzwanzigste Arrondissement von Paris. Sanary ist Sehnsuchtsort.
Ich spiele nun auch jede Nacht Pétanque, nicht im Boulodrom, sondern am Quai Wilson. Sie lassen Scheinwerfer bis eine Stunde vor Mitternacht brennen. Dort spielen die ruhigen Männer (manche würden sagen: die alten), und es wird nicht viel geredet.
Das ist der schönste Ort in Sanary. Du siehst das Meer, die Stadt, die Lichter, die Kugeln, die Boote. Du bist mittendrin, aber es herrscht Ruhe. Kein Applaus, nur manchmal ein leises »Aaah!«, klickende Kugeln, und wenn der Tireur, der zugleich mein neuer Zahnarzt ist, trifft, ein »Peng!«. Mein Vater würde es lieben.
Ich male mir in letzter Zeit oft aus, wie ich mit meinem Vater spielen würde. Und reden. Lachen. Oh, Catherine, es gibt noch so viel, was wir zu bereden und zu belachen hätten.
Wo sind nur die letzten zwanzig Jahre geblieben?
Der Süden ist blaubunt, Catherine.
Deine Farbe fehlt hier. Sie würde alles zum Strahlen bringen.
Jean.
38
P erdu schwamm jeden Morgen, bevor die Hitze kam, und jeden Abend kurz vor Sonnenuntergang. Er hatte herausgefunden, dass das für ihn der einzige Weg war, die Trauer aus sich hinauszuspülen. Sie Stück für Stück davonfließen zu lassen.
Er hatte es mit Beten in der Kirche versucht, natürlich. Mit Singen. Er war durch das bergige Hinterland von Sanary gewandert. Er hatte Manons Geschichte erzählt, laut vor sich hin, in der Küche, auf seinen
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