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Das Lavendelzimmer: Roman (German Edition)

Das Lavendelzimmer: Roman (German Edition)

Titel: Das Lavendelzimmer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina George
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Wanderungen im Morgengrauen, er hatte ihren Namen den Möwen und Bussarden zugerufen. Aber das half nur manchmal.
    Verwundete Zeit.
    Die Trauer kam oft beim Einschlafen und griff nach ihm. Gerade dann, wenn er entspannt war, hinüberdriftete – dann kam sie. Er lag dort im Dunkeln und weinte bitterlich, und die Welt war in dem Moment so klein wie das Zimmer, einsam und bar aller Heimat. In diesen Augenblicken fürchtete er, nie wieder lächeln zu können und dass ein solcher Schmerz doch gar nicht aufhören konnte.
    Er hatte in diesen düsteren Stunden tausend verschiedene »Was ist, wenn …« im Herzen und im Kopf. Dass sein Vater sterben könnte, während er Boule spielte. Dass seine Mutter begann, laut mit dem Fernseher zu sprechen und vor Kummer zu verwelken. Er hatte Angst, dass Catherine seine Briefe ihren Freundinnen vorlas und sie gemeinsam darüber lachten. Er hatte Angst, dass er immer wieder um jemanden trauern musste, der ihm lieb war, so lieb.
    Wie sollte er das nur aushalten, für den Rest eines Lebens? Wie hielt irgendjemand das nur aus?
    Er wünschte, er hätte sich selbst irgendwo stehenlassen können wie einen Besen.
    Erst das Meer war seinem Kummer gewachsen.
    Perdu ließ sich nach einem kräftigen Training vom Wasser tragen, rücklings, die Füße gen Strand. Dort, auf den Wellen, mit gespreizten Fingern, durch die das Wasser strömte, zog er jede Stunde, die er mit Manon verbracht hatte, aus den Tiefen seiner Erinnerung hervor. Er betrachtete sie, so lange, bis er kein Bedauern mehr spürte, dass sie vorbei war. Dann gab er sie frei.
    So ließ sich Jean von den Wellen wiegen, hochheben und weiterreichen. Und er begann, langsam, unendlich langsam, zu vertrauen. Nicht dem Meer, keineswegs, den Fehler sollte niemand begehen! Jean Perdu vertraute wieder sich selbst.
    Er würde nicht zerbrechen. Er würde nicht ertrinken an Gefühlen.
    Und nach jedem Mal, dem er sich dem Meer überantwortet hatte, verlor er ein Körnchen seiner Angst.
    Das war seine Art zu beten.
    Den ganzen Juli, den halben August.
    An einem Morgen war das Meer sanft und ruhig. Jean schwamm weiter raus als je zuvor. Dort draußen, weit ab vom Ufer, gab er sich diesem süßen Gefühl hin, nach dem Kraulen und Tauchen nun ausruhen zu dürfen. Es war warmer Friede in ihm.
    Vielleicht schlief er ein. Vielleicht träumte er halbwach.
    Das Wasser wich zurück, während er sank, und so wurde das Meer zu warmer Luft und zu weichem Gras. Es duftete nach frischer, seidiger Brise, nach Kirschen und Mai. Spatzen hüpften auf die Armlehnen des Liegestuhls.
    Da saß sie ja.
    Manon. Sie lächelte Jean zärtlich entgegen.
    »Aber was machst du denn hier?«
    Statt einer Antwort ging Jean auf sie zu, sank in die Knie und umarmte sie. Legte den Kopf an ihre Schulter, als wolle er sich in ihr verkriechen.
    Manon zauste ihm das Haar. Sie war nicht gealtert, um keinen einzigen Tag. Sie war so jung und strahlend wie die Manon, die er an einem Augustabend vor einundzwanzig Jahren zuletzt gesehen hatte. Sie roch warm und lebendig.
    »Es tut mir leid, dass ich dich im Stich gelassen habe. Ich war sehr dumm.«
    »Aber natürlich, Jean«, flüsterte sie sanft.
    Etwas veränderte sich. Es war, als könne er mit Manons Augen auf sich selbst schauen. Als ob er über sich schwebte, durch alle Zeiten, durch sein ganzes verqueres Leben. Er zählte zwei, drei, fünf Ausgaben seiner selbst … alle in verschiedenen Altersstadien.
    Da, wie beschämend! Ein Perdu, über das Landschaftspuzzle gebeugt, das er, kaum war es fertig, zerstörte und dann abermals zusammensetzte.
    Der nächste Perdu, allein in seiner frugalen Küche, die öde Wand anstarrend, eine nackte Funzel über sich. Vormals eingeschweißten Käse kauend, mit Brot aus der Plastiktüte. Weil er sich versagte zu essen, was er gern mochte. Aus Angst, irgendetwas könne eine Regung hervorrufen.
    Der nächste Perdu, wie er Frauen ignorierte. Ihr Lächeln. Ihre Fragen: »Und, was haben Sie am Abend noch vor?« Oder: »Rufen Sie mich mal an?« Ihre Warmherzigkeit, wenn sie spürten, mit diesen Antennen, die nur Frauen für solche Dinge haben, dass da ein großes trauriges Loch in ihm war. Aber auch ihre Zickigkeit, ihr Unverständnis, dass er Sex und Liebe nicht trennen mochte.
    Und wieder veränderte sich etwas.
    Nun meinte Jean zu spüren, wie er sich als Baum genussvoll in den Himmel streckte. Er meinte, sich gleichzeitig im taumelnden Flug eines Schmetterlings zu befinden und im Steilflug eines Bussards an

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