Das Lavendelzimmer: Roman (German Edition)
er sich für Psst.
Jean Perdu wollte kein zweites Mal den Fehler machen, eine Frau über seine Gefühle im Unklaren zu lassen. Selbst wenn diese unklar waren. Er befand sich immer noch in der Zwischenzone, und ein jeglicher Neuanfang lag im Nebel verborgen. Er hätte nicht im mindesten sagen können, wo er nächstes Jahr um diese Zeit wohl sein würde. Er wusste nur, dass er den Weg weitergehen musste, um herauszufinden, was das Ziel war.
Also hatte er Catherine geschrieben. So, wie er es auf den Flüssen begonnen hatte, und seit er in Sanary war, sogar alle drei Tage.
Samy hatte ihm geraten: »Versuch’s auch mal mit deinem Telefon. Aufregendes kleines Ding, ich schwör’s dir.«
So nahm er eines Abends das Handy und wählte eine Pariser Nummer. Catherine sollte wissen, wer er war: ein Mann zwischen Dunkel und Licht. Man wurde jemand anderes, wenn geliebte Menschen starben.
»Nummer 27? Hallo? Wer ist denn da? So reden Sie doch!«
»Madame Rosalette … haben Sie eine neue Haarfarbe?«, fragte er stockend.
»Ach! Monsieur Perdu, wie …«
»Wissen Sie die Nummer von Madame Catherine?«
»Natürlich weiß ich die, ich kenne jede Nummer im Haus, jede. Stellen Sie sich vor, die Gulliver von oben hat schon wieder …«
»Könnten Sie sie mir geben?«
»Madame Gulliver? Aber wieso denn?«
»Nein, meine Liebe. Die Nummer von Catherine.«
»Ach, so. Ja. Sie schreiben ihr häufig, nicht wahr? Ich weiß das, weil Madame die Briefe immer bei sich hat, einmal sind sie ihr aus der Tasche gefallen, ich konnte gar nicht wegschauen, es war an dem Tag, als Monsieur Goldenberg …«
Er drängte jetzt nicht mehr auf die Nummer, sondern hörte zu, was Madame Rosalette zu erzählen hatte. Über Madame Gulliver, deren neue korallenrote Pantoletten, die einen entsetzlichen, unnötigen, eitlen Krach auf den Stufen veranstalteten. Über Kofi, der Politik studieren wollte. Madame Bomme, die erfolgreich an den Augen operiert worden war und keine Lupe mehr zum Lesen brauchte. Und das Balkonkonzert von Madame Violette, wundervoll, jemand hatte ein, wie nannte sich das, ein Video gedreht und in dieses Internet gestellt, und andere Leute hatten sehr oft klack gemacht oder so, und jetzt war Madame Violette berühmt.
»Angeklickt?«
»Sage ich doch.«
Und, ach ja, Madame Bernhard hatte das Dach ausbauen und wollte da jetzt so einen Künstler einziehen lassen. Und seinen Verlobten. Verlobten! Warum nicht gleich ein Seepferdchen?
Perdu hielt das Handy ein Stück vom Kopf, damit sein Lachen ihn nicht verriet. Rosalette plapperte weiter, aber Jean konnte nur eines denken: Catherine sammelte seine Briefe und trug sie mit sich herum. Sa-gen-haft, würde die Concierge kommentieren.
Nach gefühlten Stunden diktierte sie ihm schließlich Catherines Nummer.
»Wir vermissen Sie alle, Monsieur«, sagte Madame Rosalette dann. »Ich hoffe, Sie sind nicht mehr so furchtbar traurig?«
Er krampfte seine Hand um das Telefon.
»Bin ich nicht mehr. Danke«, sagte er.
»Keine Ursache«, antwortete Rosalette sanft und legte auf.
Er tippte Catherines Nummer ein und hielt das Handy mit geschlossenen Augen fest ans Ohr. Es klingelte, einmal, zweimal …
»Ja?«
»Äh … Ich bin’s.«
Ich bin’s? Meine Güte, woher soll sie denn wissen, wer »ich bin’s« ist, herrje.
»Jean?«
»Ja.«
»Oh, du lieber Gott.«
Er hörte Catherine scharf einatmen und das Telefon fortlegen. Sie putzte sich die Nase, war wieder am Apparat.
»Ich habe nicht damit gerechnet, dass du anrufst.«
»Soll ich auflegen?«
»Untersteh dich!«
Er lächelte. Ihr Schweigen hörte sich so an, als ob sie auch lächelte.
»Wie …«
»Was …«
Sie lachten. Sie hatten gleichzeitig gesprochen.
»Was liest du denn gerade?«, fragte er weich.
»Die Bücher, die du mir gebracht hast. Ich glaube, zum fünften Mal. Ich habe auch das Kleid nicht gewaschen, von unserem Abend. Es hängt immer noch ein bisschen von deinem Rasierwasser darin, weißt du, und in den Büchern sagen mir dieselben Sätze jedes Mal etwas anderes, und nachts lege ich mir das Kleid so unter die Wange, dass ich dich riechen kann.«
Sie schwieg, und das tat er auch, überrascht von dem Glück, das ihn jäh umfing.
Sie lauschten einander schweigend, und es war ihm, als sei er Catherine ganz nahe, als sei Paris direkt an seinem Ohr. Er müsse nur die Augen öffnen und säße an ihrer grünen Wohnungstür und lausche ihrem Atem.
»Jean?«
»Ja, Catherine.«
»Es wird besser, nicht wahr?«
»Ja.
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