Das Leben dahinter (German Edition)
offenbar nur noch auf Notstrom lief. Johannson hatte mehr als einmal versucht, wenigstens ein paar Lebenszeichen von ihm zu erhaschen, ihn in ein leichtes Gespräch zu verwickeln, doch es bestand keine Chance, mehr als einsilbige Antworten zu bekommen. Pauli zu trösten, hätte er jedoch gar nicht erst den Versuch unternommen. Er wusste, dass dies völlig fruchtlos gewesen wäre und bei dem Jungen höchstens wie geheucheltes Mitleid angekommen wäre. Darum ließ er ihn meistens in Ruhe. Darum und weil Pauli auch noch etwas anderes umfing, etwas, das sogar Johannson regelrecht Angst einflößte. Der junge Mann war nicht nur traurig. Nein, er war auch fuchsteufelswild. Und da die Verantwortlichen für den Genozid noch nicht zu ermitteln waren, schien sich Paulis Wut auf seine ganze Umgebung zu richten. Diese ultimative Wut war es, die Johannson jetzt wieder auf seinem Bett sitzen, den Augenkontakt zu dem jungen Mann vermeiden und schweigen ließ.
Johannson saß im Halbdunkel und hing seinen eigenen Gedanken nach. Glücklicherweise waren sie allein. Sie brauchten ihren Raum bislang noch nicht zu teilen. Doch wenn sie noch mehr Überlebende finden würden, hätten sie wahrscheinlich binnen kürzester Zeit ein paar provisorische Betten und zwei oder drei Mitbewohner mehr. Die Argo war inzwischen überbevölkert und mehr als ausgelastet. Die Anzahl der Personen an Bord hatte sich binnen kürzester Zeit beinahe auf zwölfhundert Menschen verdoppelt. Das Schiff hatte sich in ein Auffanglager für Veteranen verwandelt. Veteranen eines Krieges, der keiner war.
Johannson hatte wieder vergessen, was er über die aktuellen Vorkommnisse erfahren hatte. Dabei glaubte er alles einmal ganz klar gesehen zu haben. Kurz bevor er vor ein paar Tagen zusammengebrochen war, hatte er ganz genau gewusst, was geschah und noch geschehen würde. Dessen war er sich völlig sicher. Doch nun war es so, als wollte er sich an einen Traum erinnern. Er konnte auf die Informationen beim besten Willen nicht mehr zugreifen. Alles, was blieb, war ein dumpfes Gefühl der Hoffnungslosigkeit, denn es war kein guter Traum, an den er sich zu erinnern versuchte. Eher eine ausweglose Situation, die auf seiner Brust lastete wie ein schwerer, harter Felsen.
Johannson wusste inzwischen von Lisa Stein, dass im Moment bereits die zweite Phase durchgeführt wurde. Die Chance, dass die Argo noch rechtzeitig Überlebende finden würde, sank mit jedem Tag, ebenso wie ihre eigenen Überlebenschancen. Es war erstaunlich, dass sie es überhaupt bis hierher geschafft hatten. Anscheinend konnten sie sich nirgendwo verstecken, nur ständig in Bewegung bleiben, um nicht gefunden zu werden. Obwohl Geheimhaltung im Augenblick keinen Stellenwert mehr besitzen konnte, hatte Stein ihm immer noch nicht erzählen wollen, woher sie diese Information hatte oder wer ihr eigentlicher Feind war, doch Phase zwei beinhaltete nach ihrer Aussage die Vernichtung aller Humanoide außerhalb von Wad’Akh‘Wian. Kolonien und Schiffe waren Ziele und es ging dabei allein um die biologische Einheit Mensch. Das Vorgehen war immer gleich, entsprach stets dem auf Wad’Akh’Wian. Brutstätten tauchten plötzlich überall immer zielsicherer und scheinbar aus dem Nichts auf und gaben eine tödliche, fliegende Ladung ab, die inzwischen durch Bildmaterial als winzige insektoide Lebewesen kategorisiert worden war und die Menschen beinahe augenblicklich in grauen Nebel verwandelte.
Johannson musste an Die kleine Meerjungfrau von Hans Christian Andersen denken, die sich am Ende ihrer Geschichte in Meeresschaum verwandelte, nachdem sie bei ihrer neuen Bestimmung versagt hatte. Sie hatte sich für ihre große Liebe geopfert – welch ehrenhaftes Ziel, das letztlich auch seinen Sinn hatte.
Aber welchem Sinn waren all diese Menschen geopfert worden?
Nachdem sie das Diggerland besucht hatten, um dort zu evakuieren, hatten sie auch eine erneute Reise zur Erde unternommen. Doch dort war es bereits zu spät gewesen. Niemand war mehr am Leben. Es waren nicht einmal mehr Spuren von Menschen zu finden, die Einrichtung war wie leergefegt. Johannson fiel es anfangs und noch immer schwer zu glauben, dass alle seine früheren Kollegen, alle Menschen, die er jemals gekannt und möglicherweise auch gemocht hatte, tot waren.
Die Argo schien damit die letzten ihrer Art zu beherbergen. Etwas mehr als eintausend Personen. Gefährdete Spezies: Mensch!
Es wurmte Johannson sehr, dass er das alles wohl schon einmal gewusst
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