Das Leben, das uns bleibt (German Edition)
trifft man ständig Leute, die einen ein Stückchen mitnehmen. Zu Fuß, auf dem Rad oder sogar im LKW .«
»Es gibt noch LKW s?«, fragte ich. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich zuletzt einen gesehen hatte.
»Klar gibt’s die noch«, sagte Syl. »Was glaubst du denn, wie die Lebensmittel nach Howell kommen? Und die sicheren Städte müssen auch ständig beliefert werden. Eigentlich dürfen sie keine Anhalter mitnehmen, aber manche tun’s trotzdem.«
»Warst du auch noch mit dieser Truppe zusammen, als du Matt getroffen hast?«, fragte ich.
»Nein, nur mit einem davon«, sagte Syl. »Wir hatten uns von den anderen getrennt, weil er im Delaware River angeln wollte. Was ich erzählen wollte, ist auch schon letzten Sommer passiert. In South Carolina, glaub ich. Wir waren damals zu sechst oder so und kamen an einem Mann vorbei, der neben seinem Rad am Straßenrand lag. Er hatte sich offensichtlich das Bein gebrochen und schrie vor Schmerzen.«
»Und was habt ihr gemacht?«, fragte ich.
»Was sollten wir schon machen?«, gab Syl zurück. »Selbst wenn wir das Bein gerichtet hätten, hätten wir ihn nicht mitschleppen können. Wer in einer Gruppe nicht mithalten kann, der bleibt zurück. Damals sind die Leute reihenweise gestorben, aber die meisten haben still gelitten oder nur leise gestöhnt. Dieser Mann war vermutlich gerade erst gestürzt, kurz bevor wir kamen. Er würde noch tagelang da am Straßenrand liegen, bis er endlich tot war. Und das wusste er auch. Wir alle wussten das. Irgendwann würde er vielleicht ohnmächtig werden. Aber bis dahin würde er schreien – vor Schmerzen und weil er wusste, dass er sterben würde.«
»Und ihr habt ihn da einfach liegenlassen?«, fragte ich.
»Einer aus meiner Truppe meinte, wir sollten ihm den Gnadenschuss geben«, sagte Syl. »Vielleicht haben das welche nach uns gemacht. Wir sind jedenfalls nicht mehr lange in der Gegend geblieben.«
»Hast du Matt diese Geschichte schon erzählt?«, fragte ich.
»Nein«, sagte Syl. »Die ist mir gerade erst wieder eingefallen, als ich dein Fahrrad da liegen sah. Einer von meinen Leuten hat sich dann das Rad geschnappt und ist damit weggefahren. Wer ein Fahrrad hat, bleibt nicht bei denen, die laufen müssen.«
»Wäre ich auch so zurückgelassen worden?«, fragte ich. »Nach einem Sturz wie diesem hier? Wenn ich nicht gleich wieder hätte weiterlaufen können?«
»Klar«, sagte Syl. »Bestimmt. Aber nach ein oder zwei Tagen hättest du eine andere Truppe gefunden. Es waren ständig Leute unterwegs, denen man sich anschließen konnte.«
Ich hasste diese Geschichte von dem Mann mit dem gebrochenen Bein. Aber der Gedanke, wie überall diese Grüppchen durch die Gegend zogen, gefiel mir irgendwie. Wenn man sich monatelang mit den gleichen drei Leuten das Zimmer teilt, kriegt man Lust auf fremde Gesichter.
Eine Weile gingen wir schweigend nebeneinanderher und ich stellte mir vor, wie ich mit einer Gruppe gut aussehender Jungs herumzog. Ein Glück, dass ich jetzt immer so eine graue Schicht auf der Haut habe, sonst hätte Syl bestimmt gesehen, wie ich rot wurde.
Mom war nicht gerade erfreut über meinen Anblick, aber sie holte ein bisschen Desinfektionsmittel, um meine Knie und Handflächen zu reinigen. Plötzlich war ich wieder eine Sechsjährige, die mit dem Fahrrad gestürzt ist.
Über die Bücher hat sie sich aber sehr gefreut, und Syl war dankbar für die neue Jeans. Jon sagte kein Wort über den neuen Duftspender – vielleicht ist ›Meeresbrise‹ nicht sein Lieblingsaroma.
28. Mai
Die schlimmste Nacht seit Ewigkeiten.
Ich habe jetzt schon seit Wochen jede Nacht Albträume. Seit dem Tag, an dem ich mich verirrt habe. Schreckliche Träume von diesem Leichenhaufen. Meist sehe ich uns irgendwo zwischen den Toten liegen. Oder ich suche nach Mom und entdecke dabei den Leichenberg. Dann muss ich da ganz oben raufklettern, um zu ihr zu gelangen.
Zweimal habe ich auch geträumt, ich würde Mrs Nesbitts Haus durchsuchen, nachdem sie gestorben ist, und egal, wohin ich mich wende, überall steht sie plötzlich vor mir. Beim Aufwachen habe ich jedes Mal gedacht, Mrs Nesbitt wäre noch am Leben. Bis mir dann irgendwann einfiel, dass sie längst tot ist und dass ich ihr Haus durchsucht habe, während sie tot in ihrem Bett lag. Und dass ich das damals in Ordnung fand.
Ein anderer Traum hatte dermaßen Ähnlichkeit mit einem Horrorfilm, dass es fast schon lustig war. In dem Traum spiele ich mit Mrs Nesbitt Tennis (was an
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